Die diesjährige Gedenkfeier auf dem Hohen Meißner wird wohl vielen ein unvergeßliches Erlebnis bleiben.
von Jonathan
Am Donnerstag, dem 3. Oktober, füllte sich nach und nach die mit nun drei Ringen bestückte Jugendburg Ludwigstein. Die Wanderer waren vom Hanstein hergekommen, wo man unter wolkenfreiem Himmel eine gemeinsame Nacht mit Tanz und Gesang verbracht hatte. Dem Besucher bot sich ein prächtiger Blick auf den in vollem Glanze stehenden Enno-Narten-Bau, dem dritten der ludwigsteinschen Ringe, welcher ein Jahr zuvor feierlich eingeweiht worden war. Rings um die Burg offenbarte sich ein buntes Treiben. Eine Schmiede hatte sich links vom Feuerplatz vor dem Enno-Narten-Bau in einer schwarzen Jurte eingerichtet. Während der bärtige Schmiedemeister mit akribischem Blicke auf die Arbeit des jungen Lehrlings schaute, wurde nebenan mit dem Blasebalg der Esse mit gleichmäßigem Rauschen, dem bekannten Sprichwort entsprechend, selbige zur Weißglut getrieben. Auf den Gängen und Fluren des „Ennos“ war der bündische Markt in vollem Gange. Von Marmeladen über Wanderausrüstung bis hin zu Meißnerjubiläumsandenken, alte Zupfgeigenhanselbücher, Fidusbilder, Pfadfinderbücher und Lederwaren wurde hier vieles feilgeboten, was das jugendbewegte Herz höher schlagen läßt. Hier wurden freudige Wiedersehen mit hell begeisterten, langen Begrüßungen und Umarmungen gewürdigt, dort war man in reges Gespräch vertieft.
Um den Turm der Burg flogen die Dohlen, und weit im Westen stand die Sonne schon tief und malte ihre immer einzigartigen Farbspiele in den Abendhimmel des Werralandes. „Hurtig!“ hieß es plötzlich. „Kehrt ein in den großen Rittersaal, den großen Meißnersaal der Burg, denn dort gibt es ein Theaterstück für alle.“ Im Dunkel des anbrechenden Abends füllten sich nach und nach alle Sitzreihen des gemütlich beleuchteten Rittersaales unter lautem Gemurmel. Schon tönten die ersten Wandergitarren, da verstummte der ganze Saal. Ein Theaterstück von und über die Dorfgemeinschaft von Witzenhausen wurde angekündigt, und siehe, da ging der Vorhang vor den vielen gespannten Gesichtern im Rittersaale auf. Ein Stromausfall! Plötzlich funktionierte in Witzenhausen gar nichts mehr. Was war zu tun? Wie sollte man jetzt noch kochen, putzen, arbeiten? Ein Raunen ging durch die Reihen, und es zeigte sich, daß fahrt-geprüfte Bündische mit Feuerholz, Kerzenschein, Bollerwagen und selbst angebautem Gemüse der Stromlosigkeit trotzen konnten. Hoch lebe das bündische Leben, denn es sichert Überleben in der Not! Das Theaterstück wurde intensiv beklatscht und mit vielen jugendbewegten Liedern geschmackvoll abgerundet. Kaum strömte man aus dem Rittersaale, öffnete sich ein sternklarer Himmel über den Besuchern der malerischen Burg Ludwigstein. Es wurde zur Gedenkstunde in den Burghof gerufen. Im feierlichen Kreise standen die Bündischen da, und ihre vielen bunten Flaggen reckten sich zu den Sternen, die über dem Burghof funkelten. Ein Sprecher gedachte mit würdigen Worten großer Persönlichkeiten aus der Jugendbewegung, die vor bald einem Jahrhundert ihr Leben für sinnlosen Militarismus hergeben mußten. Ein Kranz wurde in den Gedenkraum der Burg getragen, und jedem stand er zur Andacht für eine Weile offen. Da gingen sie hinein, nach und nach mit Bundesfahnen und gezogener Kopfbedeckung, in den heiligen Gedenkraum der Burg. Einer nach dem anderen kam aus dem Kreise unter den Sternen in den Raum der Andacht, um für kurzen Moment die stumme Totenwacht zu halten. Dann ging es wieder hinaus, um sich stillschweigend zurück in den Kreis im Burghof zu stellen. Tief ergreifende bündische Lieder klangen aus jungen und alten Kehlen zum Abschluß der Gedenkstunde, als wollten sie die Sterne in die Andacht mit einbeziehen.
Am Freitag, dem 4. Oktober, traf man sich um 9 Uhr wieder im Burghof zum morgendlichen Singen vor der Jubiläumswanderung. Dann ging es vom Ludwigstein in einer Tageswanderung an den Fuß des Hohen Meißners, wo das kleinere der zwei Meißnerlager eingerichtet werden sollte. Prächtige Fahnen und Wimpel zierten den Zug, der sich durch das schöne Werraland vom Ludwigstein in südwestlicher Richtung zum Fuße des Hohen Meißners bewegte. Da wehten Wimpel in vielen Farben nebeneinander, bis hin zum grün-rot-goldenen Wimpel des Wandervogels. Auf ihnen prangten unterschiedliche Zeichen wie Lilien, Sonnen, Ähren, Kreuze, und natürlich war auch der alte Greif darunter. Man roch schon fast den Regen, doch an diesem Tage riß der Himmel noch einmal prächtig auf, und die strahlende Sonne wünschte allen Meißnerfahrern eine gute Wanderung.
Der Jurtendom, das Festzelt des Lagers, wurde am Eingang von einem kunstvoll gefaßten Schild geziert, auf welchem zu lesen war: “Eintracht krönt das Fest“. Aus den rauchenden Kohten erklangen die bündischen Lieder, und Nebelschwaden füllten nach und nach das Tal, als hätte Frau Holle am Meißner ihren riesigen Kochtopf geöffnet. Der Himmel zog sich zu einer dichten und dunklen Wolkendecke zusammen, die so schnell nicht mehr aufreißen sollte und die prall gefüllt war mit dem mächtigen, lebenswichtigen Elemente, das bald wie aus Eimern auf das Lager niederprasseln sollte.
Am Samstag, dem 5. Oktober, wurde beim Morgenkreis geladen zu Volkstanzgruppen, bündischen Vorträgen und Tapferkeitsspielen. Da sah man redegewandte Tanzmeister und Tanzmeisterinnen gekonnt ihre Tänze erklären, begleitet von schwungvollen Akkordeonspielern. Im Tauziehen und Holzklotz-Weitstoßen traten die Bündischen im Tapferkeitsspiel unter kräftigem Gebrüll gegeneinander an. Zu Mittag qualmte in den Eßgeschirren die liebevoll zubereitete Lagersuppe, und am Nachmittag wurde zu einem Singwettstreit mit Kleinkunsteinlagen geladen. Die Freie Pfadfinderschaft Kreuzritter, die das gesamte Lager hindurch eine disziplinierte und beeindruckende Gruppendynamik unter Beweis stellte, entfachte bei den aufmerksamen Zuhörern des Singwettstreites mit ihrem selbstgedichteten, mehrstimmig vorgetragenen Lied „Straßen“ von einer Spanienfahrt wahre Jubelstürme der Begeisterung.
Am Abend wanderte man unter strömendem Regen dem Höhepunkt der Feierlichkeiten entgegen, dem großen Festfeuer auf dem Hohen Meißner. Mit Flaggen und Fackeln bewegte sich der Festzug durch den Märchenwald entlang dem Grimmsteig durch Morast, Bäche und Dickicht. Wie eine leuchtende Schlange wand sich der Zug durch die nasse, neblige Nacht des Meißnerwaldes. Am Feuerplatz angekommen war die riesige Wiesenfläche umgeben von großen, in einem weiten Kreise stehenden Wachsfackeln. In der Mitte stand der mächtige Holzstoß, in vorbildlicher Art aufgeschichtet. Unermüdlich prasselte das mächtige Element vom Himmel hinunter auf die Meißnerfahrer, die sich nun nach hundert Jahren wieder zum Gedenken der Meißnerformel in einem riesigen Kreise um den Feuerstoß horteten. Feierliche jugendbewegte Lieder klangen in die naß-kalte Herbstnacht des 5.Oktobers 2013. Ketscha, einer der Zeitgenossen Enno Nartens und anderer Gründerväter der Jugendbewegung, hob zur ersten der beiden Feuerreden an. Trotz Regen wurden ausführliche Würdigungen zum Festanlaß formuliert. Während zwei Fackelträger ihm zur Rechten und Linken beistanden, um seine Redenotizen zu erhellen, holten Ketschas Worte mitunter einen Dreiklang der Jugendbewegung ins Bewußtsein der aufmerksamen Meißnerfahrer, der aus Fahrt, Musik und weltanschaulicher Offenheit bestand. Was für ein schöner Dreiklang! Wie Ketscha als Vertreter der älteren Generation die letzten Worte seiner Rede in der Schwärze des verregneten Nachthimmels verklingen ließ, trat eine wackere bündische Dame namens Jule, kommend aus dem Freibund und der Gildenschaft, zur zweiten Feuerrede aus dem Kreise der Meißnerfahrer hervor. Leidenschaftlich redete sie über Demut und Zukunftsvisionen der Jugendbewegung.
Wie die letzten mächtigen Worte der beiden Feuerreden in der regennassen Nacht des Meißners gesprochen wurden, erklangen noch einmal feierliche bündische Lieder, bevor die zischenden Fackelstümpfe der Meißnerfahrer tief in den Bauch des festlichen Holzstoßes gestoßen wurden. Gebannt fragte man sich, ob dieser naß-triefende, überdimensionale Feuerstoß sich denn auch entzünden würde. Hoffend starrten die bis auf die Haut durchnäßten Meißnerfahrer auf das zögerliche Glimmen im Inneren des Stoßes. Das Glimmen im Holzstoß stagnierte eine Weile, doch dann trat dichter Qualm aus dem Inneren und suchte sich seine Bahn durch den Regen hoch hinaus in den schwarzen Himmel der Nacht. Das Feuer war geweckt. Aus den Kleidern der erhellten Bündischen qualmte die erhitzte Nässe – bis in alle erkalteten Knochen emsig die große Feuergewalt mit liebevoller Wärme vordrang.
Am Sonntag, dem 6. Oktober, wurde das Lager abgebaut. Gen frühen Nachmittag war die große mischwaldumgebene Lichtung am Fuße des Meißner wieder leer. Frau Holle hatte sich alles ganz genau angeschaut und schickte ihre Nebelschwaden ins Tal.
Hochachtungsvoll gegenüber diesem Jubiläum grüßt den Leser
Kreativwanderer Jonathan
Ergänzung: Wer den Artikel auf der Kreativwandererseite nicht finden konnte wird hier fündig. Die Rede von Ketscha kann man hier nachlesen und jene von Jule gibt es hier.