Anläßlich des Beginns der Meißnerwochen und der anstehenden Festlichkeiten zum 100. Jahrestag des Ersten Freideutschen Jugendtages auf dem Hohen Meißner, hier ein Artikel der sich vor einiger Zeit in unserem Postfach befand. Wir wünschen mit diesem streitbaren Beitrag allen Meißnerfahrern dieser Tage erkenntnis- und erlebnisreiche Stunden.
Dieser Beitrag ist kein konformer Beitrag zum Chor begeisterter Meißnertreffen-Freunde, sondern ein Querdenker-Beitrag, der manche Sichtweise und Entwicklung hinterfragen möchte.
von Puschkin
I. Anfangs einige Begriffsrichtigstellungen:
1. Unter Jugend verstand man um 1900 eine andere Altersstufe als heute. Der Terminus „Jugend“ bezeichnete die Altersspanne etwa zwischen 16 und 25 Jahren, also die Altersstufe Adoleszenz bis junge Erwachsene im heutigen Sprachgebrauch. Man sprach damals von gymnasialer Jugend, studentischer Jugend, akademischer Jugend, Turnerjugend, soldatischer Jugend… Die Altersstufe davor waren die Knaben und Mädchen. Der frühe Wandervogel war also keine Jugendbewegung im heutigen Sinne, sondern eine Bewegung von Adoleszenten und jungen Erwachsenen, die allerdings Jugendliche ab 14-16 Jahren um sich sammelten.
2. Der frühe Wandervogel war primär keine Reformbewegung und keine Protestbewegung gegen die Erwachsenen, sondern primär eine unpolitische Entdeckungsbewegung der Natur außerhalb der Stadtballungen und eine Wanderbewegung hinaus in die Romantik. Die frühe Wandervogelbewegung benötigte sogar die Hilfe der Erwachsenen. Ohne Erwachsenen-hilfe (z.B. einige Lehrer in Steglitz und die Eufrat-Mitglieder) hätte es die Gründung und den Aufbau der Wandervogelbewegung nicht gegeben.
Es fällt vielen heute Lebenden schwer, sich die beginnende Fluchtbewegung aus den Stadtballungen ab dem Ende des 19. Jhs. zu vergegenwärtigen. Die Menschen waren vorher in den Siedlungen weitgehend gefangen gewesen. Erst der Ausbau des Eisenbahnnetzes ermöglichte die Erschließung der weiteren Stadtumgebungen und Deutschlands für größere Gruppenreisen. Um 1900 hatte das Eisenbahnnetz eine solche Dichte erreicht, daß man leicht und billig in jede Richtung fahren konnte. Es öffnete für die Wandervogelgruppen die Tore in die weite Welt. Ab den Wandervogelanfängen liest man in Fahrtenberichten, daß man sich an Bahnhöfen traf, mit dem Zug in die Fahrtengegend fuhr und die Fahrten an Bahnhöfen beendete. Es war nicht die Flucht vor dem Zwang der damaligen Erziehung, die den Wandervogel entstehen ließ. Reformfanatiker, damals wie heute, wollen das nur der Wandervogelgeschichte unterschieben.
Um das Selbstverständnis des Wandervogels und seine Motivationen zu verdeutlichen, sollen einige Beiträge aus der Monatsschrift des Einigungsvereins „Wandervogel e.V.“ aus dem Jahr 1913 zitiert werden:
Rudolf Sievers[1] beantwortete die Frage „Was ist der Wandervogel?“ so: Der Wandervogel will laut Satzung „Erstens … das Wandern der deutschen Jugend fördern, den Sinn für das Naturschöne wecken und der Jugend Gelegenheit geben, Land und Leute der deutschen Heimat aus eigener Anschauung kennen zu lernen.“
Etwas dichterischer beschrieb Hans Breuer[2] die Fluchtbewegung der frühen Wandervögel aus den Städten und gleichzeitig die Wandlung vom wilden Vaganten-Wanderstil zum kulturromantischen Stil: „Und sie fluchten ihrer Großstadt, verhöhnten, was noch an Heiligem an ihr klebte. Sie kürten sich Armut, Not und Entbehrungen, stürmten hinaus in wilde Klüfte und Wälder und tagten dort in der Einsamkeit. Das war eine wilde, schöne Zeit… Aber mählich, wie sie reifer wurden, zog’s sie, die bäuerlichen Stuben zu schmecken, durch Gäßchen altfränkischer Städtchen zu schweifen, sie sahen den feierlichen Ernst wuchtiger, rundbogiger Münster, die ragenden Dienste gotischer Kathedralen und spürten einen Hauch von ihrem Genius“.
Und der neu gewählte Bundesführer[3] des neu gegründeten Einigungsbundes „E.V.“ warnte im selben Heft vor Reformern auf diesem geplanten Freideutschen Treffen, vor denen man Vorsicht haben müsse. „Aber da kommen aus dieser Jugend selbst einige hervor und raunen und rauschen den anderen heimliche Dinge ins Ohr. Und sagen: Das Wandern und Singen an sich ist gar nichts wert. Wir müssen eine neue Jugendkultur schaffen, darauf kommt alles an… Ich bin auch anderen begegnet, Jünglingen mit schmachtenden Augen, denen war das Herumlaufen mit nackten Beinen und bloßem Kopf und das Tragen langer Haare wichtiger als die ganze Wanderei… Wieder andere habe ich getroffen, die wollten, daß der Wandervogel… sich… mit allen möglichen anderen Verbänden, die auf Lebens-erneuerung drängen, zu gemeinsamer Arbeit zusammenschließen,… als ob das nicht der Tod einer Jugendbewegung sein müßte… Unsere Liebe sei Wald und Heide, Berg und Strom. Unser Ruf sei derselbe… Hinaus in die Ferne“.
Und im nächsten Heft 11 antwortete Edmund Neuendorff auf den Antrag von Wandervogel-führern, Teilnehmern am gerade zurückliegenden Meißnertreffen, der Meißnererklärung beizutreten: Der Antrag werde der nächsten Bundesversammlung des e.V. vorgelegt, „aber wir im Wandervogel dürfen nie und nimmer vergessen, daß unsere erste und ernsteste und heiligste Aufgabe sein muß: Förderung des Wanderns und der von selbst aus ihm erblühenden und durch Lebenskräfte notwendig mit ihm verbundenen äußeren und inneren Kultur deutscher Jugend.“[4]
Natürlich gab es auch Wandervögel, die froh waren, der damaligen Erziehungs- und Familienwelt entweichen zu können. Aber das war nicht die primäre Intention der neuen Bewegung.[5] Und es gab auch früh Versuche, diese neue Bewegung zu ideologisieren. Aber es war hauptsächlich die harmlos-naive Ideologie von der Suche nach der blauen Blume, die aus der Romantik übernommen wurde, die man dem Wandervogel überstülpte.
Diese ideologisch naiv-harmlose Wandervogelbewegung war z.B. dem Reformpädagogen Wyneken nicht ernsthaft genug. Er meinte, der Wandervogel habe in Lied und Tanz einen Ausdruck jugendlichen Frohsinns gefunden, sich damit aber auch bereits zufriedengegeben und habe es sich wohl sein lassen. Die ganze künstlerische Einstellung des Wandervogels sei auf bloßen Stimmungsgenuß gerichtet, und zwar auf einen ziemlich bequemen und billigen Genuß.[6]
II. Die Einladung zum Meißnertreffen
1. Zum Meißnertreffen 1913 hat es mehrere Einladungen gegeben. [7] Die letzte Einladung zum Meißnertreffen, weitgehend formuliert von Gustav Wyneken, war eine pathetisch-rhetorisch-suggestive Meisterleistung eines Krisenmanifestes zur Situation der deutschen Jugend um 1900.
Formulierungen wie „Die deutsche Jugend steht an einem Wendepunkt“, „träge Gewohn-heiten der Alten und den Geboten einer häßlichen Konvention“, „Wir wollen auch weiter getrennt marschieren, aber in dem Bewußtsein, daß uns ein Grundgefühl zusammen- schließt, so daß wir Schulter an Schulter gegen die gemeinsamen Feinde kämpfen“, „Möge von ihm eine neue Zeit deutschen Jugendlebens anheben“ suggerieren einen Jugendnotstand und negieren, daß damals die Erziehung durch Eltern und Schulen in vielen Fällen besser war als die heute häufige Nicht-Erziehung und schlechte Erziehung durch viele Medien. Die damalige Erziehung war zugegeben etwas überbehütend, zu konventionell, aber zu einer allgemeinen Dramatik war kein Anlaß. Diese Sorge ist eher für die Gegenwart berechtigt.
2. Zusammen mit den früheren Aufrufen zu einem Meißnertreffen, jeweils formuliert von Knud Ahlborn, Christian Schneehagen bzw. W. Groothoff, wird die Absicht erkennbar, daß eine Minderheit von Reformern und Reformgruppen mit Hilfe von zahlenmäßig größeren Verbänden, z.B. dem Wandervogel, ihre Reformvorstellungen und Ziele in die Gesellschaft tragen wollte. Der Wandervogel war als zahlenmäßig starke Hilfstruppe geplant, die ideelle Leitung sollte aber bei den Reformern bleiben.
3. Die Formulierung „die deutsche Jugend“suggeriert, daß hier die gesamte deutsche Jugend angesprochen würde. In Wirklichkeit betraf das nur die Jugend der bürgerlichen Sozialschichten. Die bäuerliche Jugend, damals noch der weitaus größte Anteil, hatte weder Zeit noch Gelegenheit für Freiräume. Die zunehmende Arbeiterjugend hatte andere Sorgen, nämlich die schmale finanzielle Basis und überlange Arbeitszeiten, und war größtenteils in den sozialistischen Jugendorganisationen erfaßt. Für obige Reformideen, für pädagogische Freiräume und auch für die notwendige Zeit dazu kam nur die bürgerliche Jugend der mittleren und höheren Sozialschichten in Frage. Diese dürfte kaum mehr als ca. 10 % der damaligen Gesamtjugend umfaßt haben.
III. Zu den tragenden Kräften des Meißnertreffens
Das Meißnertreffen 1913 wurde ausgedacht und primär geprägt von der „Deutschen Akademischen Freischar“. Diese Bewegung war von dem zu Reformen neigenden Knud Ahlborn und seinem Freund Hans Harbeck 1907 in Göttingen gegründet worden, und zwar als eine Weiterführung der Wanderverein-Bewegung im Bund Deutscher Wanderer speziell für die Sozialschicht der Studenten. Knud Ahlborn hatte in Hamburg 1905 als 17-Jähriger den ersten Wanderverein gegründet. Dieser Hamburger Wanderverein beschrieb sich als „Selbsterziehungsverein höherer Schüler“. Der daraus entstandene Bund Deutscher Wanderer formulierte sein Ziel so: „Vom Wanderer zum Menschen, das ist unsere Erkenntnis und unser Ziel“. Damit war seine Zielsetzung pädagogischer Art und stand in der pädagogischen Tradition, die Goethe in seinem Erziehungsroman Wilhelm Meister ausgesprochen hatte, daß nämlich der Mensch nur durch Wandern und Reisen zur inneren Reife gelangen könne.
Die erste Akademische Freischar in Göttingen hatte bewußt statt der ursprünglich geplanten Bezeichnung „Akademischer Wanderverein“ den kämpferischeren Namen „Freischar“ gewählt. In der Gründungsurkunde beschrieb man sich als „Kampfbund zur Reform des Deutschen Studententums“. Man verstand sich als Alternative zu den traditionellen Studentenverbindungen und war gegen das studentische Fechten und Trinken und hielt weiterhin am goethischen Ideal der Menschenbildung zum Guten und Schönen fest. 1913 formulierte die Akademischer Freischar eines ihrer Ideale so: „Alle Veranstaltungen der Freischar haben Gesundheit und Schönheit zum obersten Gesetz“.
Damit war die Akademische Freischar keine studentische „Roverstufe“ für Wandervögel, sondern eine elitäre und letztlich pädagogisch orientierte Bewegung, die mit dem viel „naiveren“ Wandervogel nur das Wandern, aber nicht die Zielsetzungen gemeinsam hatte.
Es war auch nicht so, daß die älteren Wandervögel automatisch oder hauptsächlich als Studenten in die örtlichen Freischargruppen eintraten. In Heft 4 der Zeitschrift des Wandervogel e.V.vom April 1913 gab es dazu eine kleine Diskussion in Form von 4 Lesermeinungen.[8] Eine Zuschrift empfahl den Eintritt studierender Wandervögel in die Freischar, weil die Ziele studentischer Verbindungen über die Ziele des Wandervogels hinausgingen (z.B. Stellungnahmen zu verschiedenen Kulturfragen) und die Wandervogelziele nicht mit solchen studentischen Zielen vermengt werden dürften. Der Schreiber bedauerte gleichzeitig, daß sich bisher so wenige studierende Wandervögel der Freischar oder vergleichbaren studentischen Korporationen angeschlossen hätten, und schlug vor, offiziell für solche Übergänge nach der Schüler-Wandervogelzeit zu werben. „Ich halte es für das beste, die Wandervögel immer wieder auf die Freischar und ähnliche Verbindungen hinzuweisen. Daß sich bis jetzt so wenige angeschlossen haben, mag zum Teil daran liegen, daß diese Verbindungen noch zu neu und unbekannt sind… Dazu kommt, daß er seine Bekannten meistens im Wandervogel hat und nicht in der Freischar.“[9]
Die anderen drei Leserzuschriften hielten durchaus studentische Wandervogelgruppen als Gruppierung für die älter gewordenen Wandervögel für sinnvoll und verwiesen auf schon bestehende akademische Wandervogelgruppen. Auch die studentische Wandervogelgruppe um Hans Breuer in Heidelberg lebte ihre Wandervogeltradition als weitgehend akademische Gruppierung, die „Heidelberger Pachanthey“, weiter.
Knud Ahlborn war zusammen mit einigen anderen Freunden aus der Freischar Hauptinitiator des Freideutschen Jugendtages auf dem Meißner und der sogenannten Meißnerformel, wobei Ideengeber für die Formulierungen vor ihm möglich sind. Knud Ahlborn war von seiner Anlage her ein Mensch, für den Aspekte der Menschenbildung von zentraler Bedeutung waren und der in gewisser Weise lebenslänglich zu Idealisierungen, Reformen und Neugründungen neigte.
Daß sich Knud Ahlborn in Göttingen kurz vor seiner Gründung der Akademischen Freischar der dortigen Altwandervogel-Gruppe angeschlossen hatte, bedeutet nicht, daß er die Freischar als „Rovergruppe“ des Wandervogels verstand. Wie intensiv er neben seiner Freischargruppe noch Kontakt zu dieser Altwandervogel-Gruppe pflegte, kann nicht gesagt werden. Aber gerade der Altwandervogel lehnte damals die Teilnahme am Freideutschen Jugendtag ab. Vielleicht kannte man dort die Sympathien von Knud Ahlborn für Reformer und Reformbünde…
IV. Zum Meißnerfest und der Rolle der Wandervögel
Daß trotz der unsicheren bzw. ablehnenden Haltung der großen Wandervogelbünde doch etwa die Hälfte der Teilnehmer Wandervögel waren, lag daran, daß der „E.V.“ nicht wie der Altwandervogel kurzfristig eine eigene Parallelveranstaltung geplant hatte. Viele Gruppen hatten längerfristig die Reise geplant und die Fahrkarten schon gekauft. Ein Teil der Teilnehmer aus diesem Bund wurde aber bereits auf diesem Treffen vom Charisma der Meißner-Erklärung ergriffen.
Der Jungwandervogel, der sich bis zuletzt an der Einladung offiziell beteiligt hatte, äußerte sich nachträglich teilweise spöttisch-kritisch zu all den vielen Idealisten, Sektierern und Reformern. Ein Berichterstatter schrieb: Es „kamen Leute und sagten, der politische Linksliberalismus wolle die Jugend fangen; die Linksliberalen freuten sich und glaubten’s vielleicht selber, und die „Nationalen kamen“, um die Jugend zu „retten“. Und wir, die Jugend – lachten. Kümmerten uns den Teufel um Politik. Gingen mit offenen Augen und Ohren hin zum Meißner-Fest, und hätte uns einer von Politik erzählt, dann wären wir singend von dannen gezogen… Wir haben uns zwar mühsam verschiedener Apostel erwehren müssen, die uns vor ihren Wagen spannen wollten, haben aber auch Männer kennen gelernt, die die Jugend achten und ihr helfen wollen um ihrer selbst willen“[10]
Und der Komponist des Liedes „Wir wollen zu Land ausfahren…“, Kurt von Burkersroda, ebenfalls Jung-Wandervogel, schrieb im nachhinein über das Hansteintreffen am Vorabend: „Eine Zeitlang ist nur Getümmel und Gesummel. Während dessen macht man Studien. Weiße und blaue Pludermützen,… ausgesprochene Zwiebacknasen, fantastisch-hagere Abstinenzler- und Rohköstlergesichter mit tief in den Höhlen liegenden Augen. Mancherlei Fähnlein hängen müde hernieder, und ich höre, wie vor mir einer erklärt: Dort sitzen Volkserzieher, die massive Erscheinung da ist Popert, dahinten sitzen die Himbeersaftstudenten, und die Fahne mit dem Rad, das ist das Banner des Serakreises!
In verschiedenen Ecken feiert die Kleiderreform wilde Orgien mit Kitteln in allen Regen-bogenfarben. Der E.V. läßt krampfhaft seine Storchnadel sehen, die anscheinend immer größere Formen annimmt. Und über all dem Mischmasch von Loden, Manchester, Bund-tuch, Reformhemden, Umhängen und Touristenanzügen ein Meer von erwartungsvollen Augen.“[11]
Wenn auch eine Reihe Wandervogelgruppen nachträglich positiv vom Meißnertreffen 1913 berichtete, so bestand doch ein Teil der Wandervogelteilnehmer hauptsächlich nur aus Neugierigen, Verlegenheitsbesuchern, Lauwarmen, Kritikern und zog recht unbekümmert wieder nach Hause.
„Wenig hat am Ende jene historische Tagung auf dem Hohen Meißner ergeben – nur ein Versprechen, das nie gehalten wurde, und eine Formel, die jedem etwas anderes bedeutete und die auf jeden Fall keine spezielle Jugendformel war. Für die Jungen und Mädchen im Wandervogel mag das nicht sehr von Belang gewesen sein: Lachend hatten sie auf dem Hohen Meißner zugesehen, wie Links und Rechts sich mühten, sie für ihre Zwecke zu mobilisieren“.[12]
Und kaum ein Jahr später zogen die Wandervögel voll nationaler Begeisterung in den
1. Weltkrieg und in die Schlacht bei Langemarck, obwohl doch das Meißnertreffen 1913 sich gegen den damaligen Hurra-Patriotismus mit Soldatenfeiern gewandt hatte.
V. Zur charismatischen Wirkung der sogenannten Meißner-formel
Mitreißende Schlagworte, griffige Formulierungen, eingängige Merksätze machen mehr Geschichte und haben größere Wirkungen als dicke Bücher. Das gilt seit den Anfängen der Geschichte: „Es gibt nur einen Gott, du sollst nicht andere Götter neben mir haben; Ich weiß, daß ich nichts weiß; Hier stehe ich, ich kann nicht anders; Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen; Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit; Proletarier aller Länder, vereinigt euch; Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“… In die Reihe dieser wirkungsträchtigen Formulierungen gehört auch die Meißnerformel. Sie war es, die dem Treffen von 1913 erst Bedeutung und Geschichtlichkeit verschafft hat. Ohne diese „Formel“ würde sich heute kaum noch jemand dieses Treffens erinnern. Sie füllte eine Lücke aus, die damals im soziologischen Raum offenstand.
1. Die erste Wirkung dieser Erklärung war, daß sie sukzessive den teilnehmenden und auch nicht teilnehmenden Bünden bewußt machte, daß die damaligen Bewegungen von Adoleszenten und jungen Erwachsenen in irgendeiner Form direkt oder indirekt ein Sich-Abgrenzen, ein Protest gegen die damalige Gesellschaft waren oder wurden und daß man Reformen praktizierte, auch wenn man sie bewußt nicht geplant hatte. Diese griffige Erklärung, obwohl inhaltlich ein Allgemeinplatz, der für alle protestierenden Generationen der Geschichte Gültigkeit hat, begann allmählich sogar Pfadfindergruppen in ihren Bann zu ziehen. Und daß besonders die anfangs kritischen Wandervögel das Gedenken an Formel und Treffen von 1913 am Leben erhielten, ist schon ein beachtenswerter charismatischer Erfolg, eigentlich ein kleiner Treppenwitz der Weltgeschichte.
2. Diese Formel war nicht nur griffig, sie beinhaltete auch Zwang und verlangte unbedingte Geschlossenheit. Die Schlußworte „Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein“ bedeuten eigentlich ein suggestives Einschwören auf diese Formulierung, die die Besucher des Treffens 1913 vorher noch gar nicht gekannt hatten, wobei hinter dem Hinweis auf „innere Freiheit“ auch Ziele von Bünden stehen konnten, die nicht jeder damals und heute akzeptieren möchte.
Man muß sich diesen Vorgang einmal genau vor Augen halten. Da fühlten sich einige Freischärler unter Führung von Knud Ahlborn als Sprachrohr aller Teilnehmer dieses Treffens und forderten entschiedenes Eintreten aller für dasjenige, was sie während einer Wanderung ausformuliert hatten. Das war im Grunde ein gewisser Fraktionszwang, eine Bevormundung.
Wäre diese Meißner-Erklärung in einem demokratischen Formulierungsprozeß entstanden, wäre sie real eine Erklärung der damals Versammelten gewesen. So war sie eine Forderung weniger, die aber durch das Charisma ihrer Worte nachträglich immer mehr Bünde hinter sich versammelte.
3. Diese Formel hat die Wandervögel im Zuge des Wandels des soziologischen Begriffes Jugend erst zu einer Jugendbewegung im Sinne von Nichterwachsenen gemacht. Denn das Wort und der Begriff „Jugend“ sind in der Formel geblieben, der Sinn von Jugend hat sich aber geändert. Das hat längere Zeit die Rolle von Älteren in den bündischen Gruppierungen verunsichert. Erst in der Gegenwart beginnt sich, auch durch den demografischen Wandel, das Selbstverständnis einer großen bündischen Familie über alle Altersstufen hinweg durchzusetzen.
Daß sich diese Erklärung auf Wandervögel und Pfadfinder ausweitete, hängt auch damit zusammen, daß die Leitideen von diesen Bünden nicht soziologisch kritisch und reichhaltig genug sind, um auch für darüber hinaus Interessierte einen Heimatraum zu bieten. Die Wandervogelromantik erschöpft sich irgendwann einmal, und die Pfadfindertechniken hat man irgendwann einmal gelernt…
In dieser Formel fand man einen gedanklichen Anstoß für übergeordnete Ideen. Welche vielfältigen Assoziationen eröffnen sich bei den Worten „nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung“… Sie motivieren dazu, unbeirrt dem zu folgen, selbstüberzeugt das umzusetzen, was man für richtig hält. Es ist im Grunde ein Freibrief für alternative Ziele und Lebensformen jeglicher Art schon in jungen Jahren.
VI. Vorschlag für einen zurückhaltenderen Umgang mit der Meißnertradition und Meißnerformel
1. Charismatische Sätze, Erklärungen, Aussagen, Formeln können initiieren, sammeln und stärken, sie können aber auch negative Wirkungen entfalten, indem sie z.B. historische Zusammenhänge vereinfachen und Pluralismus gefährden.
Zugegeben: Für Bündische, die von der Meißnererklärung 1913 begeistert waren und die teilweise verzückt auf diese Formel starrten, ist es unerheblich, ob ihre Gruppierungen diese Erklärung inhaltlich von Anfang an unterstützten oder erst allmählich in ihren Sog gerieten.
Aber die Sorge vor einer Beeinträchtigung von Pluralismus sollte man etwas ernster nehmen. Die Wandervogelbewegung entwickelte sich bereits kurz nach ihrer Gründung pluralistisch. Pluralismus kann eine Bereicherung sein. Die charismatische Formulierung dieser Meißner-Erklärung und besonders ihre Forderung nach Geschlossenheit hinter ihrer Aussage kann aber Pluralismus beeinträchtigt, indem sie Bünde, die nicht allen Zielen der anderen zustimmen, in ihrem individuellen Selbstverständnis verunsichert. Deshalb sollte man die Bedeutung dieser Erklärung etwas zurückfahren.
Für das 100jährige Gedächtnistreffen im Herbst 2013 könnte das konkret bedeuten:
- daß man auf die Suche nach einer ähnlich charismatischen Erklärung verzichtet und sich höchstens auf eine einfache Aussage beschränkt oder noch besser jedem teilnehmenden Bund eine eigene Erklärung zubilligt.
- daß man kein gemeinsames Meißnerlager 2013 anstrebt, sondern jedem beteiligten Bund ein eigenes Lager am Meißner zuspricht und nur zu zentralen Veranstaltungen an einem Ort zusammenkommt. Vielleicht kann man sich auch in dieser Form gegenseitig besser ertragen, wenn man nicht für die Freiheit der Ziele der anderen Gruppen eintreten muß.
- daß man den Anspruch aufgibt, die Welt irgendwie entscheidend zu reformieren und verbessern zu wollen, denn das ist nach allen Erfahrungen der Geschichte leider nicht möglich. Es ist nur sinnvoll, daß jeder Bund versucht, um sich kleine Inseln des Vernünftigen und Guten zu schaffen, so wie Alexej Stachowitsch das forderte.
VII. Einige Literaturhinweise
- http://buendische-vielfalt.de, z.B. zwölfdreizehnschnipseleien januar 13 und märz 13, hansische Meißnerschnipsel usw. Auf dieser Netzseite sind in den letzten Monaten interessante Quellen zum Meißnertreffen 1913 zusammengetragen worden. Die konkret benutzten Stellen sind als Fußnoten angegeben.
- Wandervogel, Monatsschrift für deutsches Jugendwandern, verschiedene Hefte des Jahrgangs 1913
- Helwig, Werner, Die blaue Blume des Wandervogels, Deutscher Spurbuchverlag, überarbeitete Neuausgabe, hrsg. Von Walter Sauer, 1998.
- Speiser, Heinz, 1977: Hans Breuer – Wirken und Wirkungen, eine Monografie, Burg Ludwigstein.
- Wurm, Helmut 1990: Vorarbeiten zu einer interdisziplinären Untersuchung über die Körperhöhenverhältnisse der Deutschen im 19. Jahrhundert und der sie beeinflussenden Lebensverhältnisse, 2 Teile. Teil 1: Einleitende Begründung, quellenkundliche Probleme, quellenkundliche Vorarbeiten für die politischen Einzelräume von Norddeutschland bis Württemberg. Teil II: Quellenkundliche Vorarbeiten für Baden, Elsaß-Lothringen, Bayern, das gesamte Deutsche Reich, zusammenfassende Auswertung, ernährungshistorische Hinweise, Schrifttum. in: Gegenbaurs morphologisches Jahrbuch, Bd. 136, S. 405-429 und S. 503-524.
(In dieser Untersuchung waren nur die Wachstumsverhältnisse ab 18 Jahren betrachtet worden. Es wurden die damaligen Messungen an Turnern, Soldaten, Studenten usw. ausgewertet, wobei immer wieder die Klassifikation Turnerjugend, soldatische Jugend, studentische Jugend usw. auffiel.)
- Eine Internet-Suche (z. B. in http://de.academic.ru; wikipedia; scout-o-wiki, buendische-vielfalt) zu den Schlagworten „Jugendbewegung, Altwandervogel, Wandervogel e.V., Meißner 1913, Freideutscher Jugendtag, Meißnererklärung 1913, Knud Ahlborn, Gustav Wynneken, akademische Freischar, Bund deutscher Wanderer“ usw. Die konkret benutzten Stellen sind als Fußnoten angegeben.
- Siehe auch: Hoher Meissner 1913. Der Erste Freideutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern, hrsg. von Winfried Mogge und Jürgen Reulecke, Wochenschau-Verlag, 1988, 422. Seiten.
3. Jahrg., Nov./Dez. 1913, Heft 11/12, S. 161; zit. nach http://buendische-vielfalt.de/?p=1545, Hansische Meißnerschnipsel – Wandervögel nah & fern, von der Hamburger Gilde Gorch Fock, wobei in dieser Textzusammenstellung eine Fotokopie der betreffenden Zeitschrift-Ausgabe enthalten ist, so daß man auch direkt von dieser Fotokopie zitieren kann.
[11] Ebenda, s. 161f; ebenfalls zit. nach http://buendische-vielfalt.de/?p=1545, Hansische Meißnerschnipsel – Wandervögel nah & fern, von der Hamburger Gilde Gorch Fock.Meißnerformelgenerator: Als hätte die Eisbrecher-Redaktion Puschkins Forderungen nach einer “eigenen Erklärung” gekannt, ruft sie hier unter dem Motto “Hundert Jahre Formeldiktat sind genug!” zu Generierung neuer Formeln auf. Solange der Vorrat reicht…
[...] Beitrag zur Entmythologisierung von Meißnertreffen und Meißnerformel 1913 « bündische vielfalt .. Teile dies:DruckenE-MailShare on Tumblr Dieser Beitrag wurde am 27.09.2013 von Mittelwächter in Jugendbewegung veröffentlicht. Schlagworte: Freideutsche Jugend, Hoher Meißner, Jugendtag, Meißnerformel, Meißnertreffen. [...]
Man hätte sie längst ablegen sollen, die Meissner-Formel. Die hundert Jahre alte Formel hat das klare Denken hundert Jahre lang gehindert, denn auch ein überzeugter Mörder handelt „vor eigener Verantwortung“ und greift tapfer zur Waffe, auch ein Kindesmissbraucher handelt „nach eigener Bestimmung“ und missbraucht das Kind, auch Adolf Hitler war mit sich und der vermeintlichen Vorsehung völlig im Reinen und lebte „in innerer Wahrhaftigkeit“. Die Formel hätte anders lauten müssen für die Deutsche Jugendbewegung, drei Begriffe hätten ausgereicht: menschenrechtsuniversalistisch, gleichheitsfeministisch, aufklärungshumanistisch.
[...] Beitrag zur Entmythologisierung von Meißnertreffen und Meißnerformel 1913 [...]