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Ausstellung „Einfach. Natürlich. Leben.“ – Geschichten von Gustav & Gustaf

von bjo:rn

Die Wiege des Wandervogels liegt in Berlin-Steglitz, doch die ersten Schritte und Fahrten unternahmen die Wandervögel im Umland – in Brandenburg. Der Jugendbewegung gleich entstanden auch andere Reformideen im städtischen Bürgertum, die eine Umsetzung auf dem Land finden sollten.

„Aus grauer Städte Mauern“

Den größten Kontrast zwischen Stadt und Land boten Berlin1 und Brandenburg. Die „größte Mietskaserne der Welt“, wie man Berlin auch bezeichnete, diente gleichermaßen als Ideenschmiede, Werbeplattform und Absatzmarkt. Rund um die Hauptstadt entstanden vor etwa 100 Jahren etliche Reformprojekte, von denen einige noch heute existieren. Der Lebensreform in Brandenburg widmet sich aktuell eine Ausstellung in Potsdam unter dem Titel. „Einfach. Natürlich. Leben.“

Den Besucher empfängt eine Karte Brandenburgs mit Markierungen für die in der Ausstellung vorgestellten Projekte. Schon durch die räumliche Streuung läßt sich die dahintersteckende Vielfalt erahnen. Einem schlicht gehaltenen Eingangsbereich mit hohen Wänden, großen Fotos, viel Platz und gemütlichen Farben folgt eine beengte rustikale Räumlichkeit mit viel Fachwerk und Holz‒ ein erzwungener, aber stimmiger Kontrast. Stadt – Land, Beton – Wald, Grau – Grün, Berlin/Potsdam – Brandenburg.

Jedem der Projekte wird in etwa gleich viel Platz eingeräumt. Dies führt zwangsweise zur Verengung bei komplexeren Themen, gibt dem ohnehin schon umfangreichen Gesamten aber eine gewisse Ordnung. Die inhaltliche Verengung wird meist2 durch das sehr detaillierte Ausstellungsheft ausgeglichen und erkenntnisreich ergänzt, welches vor Ort erworben werden kann und im Eingangsbereich des zweiten Raums zur Ansicht ausliegt. Dieser Bereich lädt mit einem gemütlichen Sofa ausdrücklich zum Pausieren ein und entführt den Besucher mit bewegten und bewegenden Stummfilmen zurück in die Zeit der Reformer‒ eine zu empfehlende Halbzeitpause! Der Rest der Ausstellung wirkt dagegen teilweise etwas statisch. Selbst die im großen Raum aufgestellten Säulen mit Bildern können diese Empfindung nur kurz aufbrechen, da die geringe Fülle an Bildmaterial nicht zum längeren Verweilen verlockt. Allein eine größere Auswahl Fotos von Jule Groß hätte genügt, um einen noch tieferen Einblick zu erhalten. Als Mitbegründer des Lichtbildamtes für Wandervogelgruppen aus Berlin und Brandenburg schoß er einen Großteil seiner Bilder rund um Berlin. Ebenso hätte der Ausstellung vielleicht auch eine akustische Ergänzung gutgetan, beispielsweise ein Potpourri märkischer Lieder wie jener von Gustav Büchsenschütz aus einem Grammophon oder aber gesprochene Gedichte von Gusto & gustaf.

„Hie Gustav allewege!“

Insbesondere die Information, daß das in Brandenburg äußerst populäre Lied „Märkische Heide“ kein typisches Volkslied ist, sondern aus dem Wandervogel stammt, hätte gewiß so einige Besucher interessiert und eine emotionale Brücke geschlagen. Zurück zu gustaf: Da die Ausstellung nicht als Rundgang, sondern als Hin und Zurück konzipiert ist, landet man am Wendepunkt zwangsweise bei gustaf nagel. Wenn man ihn als „lebensreformerisches Gesamtkunstwerk“3 versteht, ist diese Positionierung selbstverständlich gerechtfertigt. Seine überspitzte Entschiedenheit, die ihn an die Grenze der Weltfremdheit führte, hebt ihn unbestreitbar von anderen Persönlichkeiten seiner Zeit ab. Gleichwohl dürften die Übertreibungen des Neuzeit-Propheten mit „fridensbanner“ den einen oder anderen Besucher hilflos zurückgelassen haben. Es bleibt zu hoffen, daß die Masse der Besucher sich dennoch auf dem Rückweg zum Ausgang an der Vielfalt erfreut und so manche Spuren der Lebensreform im Alltag wiederentdecken wird.

Die Ausstellung bietet ein beeindruckendes Mosaik aus einer bewegenden und ideenreichen Zeit. Brandenburg als Wiege und Schmiede einer Lebensreform, die heute deutschlandweit allgegenwärtig ist. Diese Geschichte ist weitestgehend unbekannt, da bisher unerzählt. Und man munkelt, längst habe eine neue Stadtflucht eingesetzt. @Rainald Grebe, ein neuer „Song“ muß her!

 

Ausstellung: besuchen!

10.07.2015 – 22.11.2015
Einfach. Natürlich. Leben.
Lebensreform in Brandenburg 1890–1939

Eine Ausstellung des Hauses der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte im Rahmen des Themenjahres Kulturland Brandenburg 2015 “gestalten–nutzen–bewahren. Landschaft im Wandel”

Begleitbuch: lesen!

Wie schon erwähnt, ist das Buch eine gelungene und daher sehr zu empfehlende Ergänzung zur Ausstellung. Neben den dort ausgestellten Bildern und Schautafeln wird jeder Themenbereich von versierten Autoren umfassend dargestellt. Wer den Weg nach Potsdam nicht auf sich nehmen kann, dennoch am Thema interessiert ist, dem sei das Buch nicht als Ergänzung, sondern eben als Ersatz empfohlen. Soweit das Fazit vorweg.

In Form und Gewand bleibt man sich treu, das Buch ist ansprechend gesetzt und reich bebildert. Auch der Inhalt des Heftes deckt sich weitestgehend mit den Themenfeldern der Ausstellung. Ins Thema ein führen Direktor Kurt Winkler und Kuratorin Christiane Barz. Beiden gelingt eine Zusammenfassung des Gesamtkomplexes Lebensreform, was für die weitere Lektüre hilfreich ist. Der Deutungshorizont der Bewegung ist nämlich weit:

Die Lebensreform ist ein dynamisches Projekt.
Die Lebensreform ist ein kompensatorisches Projekt.
Die Lebensreform ist ein asketisches Projekt.
Die Lebensreform ist ein didaktisches Projekt.
Die Lebensreform ist ein modernes Projekt.

Der Einleitung und Einordnung folgen Artikel von zumeist namhaften Autoren zum FFK-Zentrum am Motzener See, zum Wandervogel in der Mark, zur Obstbausiedlung Eden, zur Freiland-Siedlung Gildenhall, zu Gustav (gustaf) Nagel, zum Friedrichshagener Dichterkreis, zum Künstler Fidus, zum Demeter-Hof Marienhöhe, über die Zeitschriften „Die Schönheit“ und „Der Eigene“, zur Naturheilbewegung, zum Reformator Joseph Weißenberg und seiner Friedensstadt, zur völkischen Siedlung Heimland, zur anarchistischen Siedlung Grünhorst, zur Reformpädagogik Adolf Reichweins und zum Reformgarten Karl Foersters. Den Abschluß bildet ein Nachruf auf das einst im Fidushaus (Woltersdorf) errichtete Museum der Lebensreform, welches wenige Jahre nach Gründung auch schon wieder Geschichte war.

Gewiß. Die Lebensreform als Bewegung ist vorbei, ihre Ideen sind jedoch alles andere als Geschichte. Vegetarisch und vegan sind längst keine Fremdwörter mehr, Demeter läuft, Bio sowieso, FKK zumindest ostseits der Elbe, Reformschulen sind beliebt, Alternativmedizin nicht minder, „urban gardening“ (Urbaner Gartenbau) und „share economy“ (Kokonsum) sind hipp, Yoga, Zen, Meditation und Körperkult sind angesagt wie nie. Und so könnte der Anhang des Heftes mit seinen Rezepten, Leibesübungen, Naturkosmetik, Badekleidung („Nacktschurz“) und Texten zur freien Liebe nicht nur wissenschaftlichen, sondern auch praktischen Nutzen spenden.

Einfach. Natürlich. Leben.
Lebensreform in Brandenburg 1890–1939

Herausgegeben von Christiane Barz im Auftrag des Hauses der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte, Verlag für Berlin-Brandenburg
184 Seiten, 130 Abbildungen, ISBN 978-3-945256-23-7
Preis im Buchhandel: 24,99 Euro | Preis im Museumsshop: 19 Euro

Begleitprogramm:

Sa, 26.09. | 19 Uhr
Film „Allmutter Natur“, R: Gertrud David, D 1924, 51‘
Ort: Filmmuseum Potsdam

Di, 29.09.
Busexkursion mit der URANIA Potsdam nach Friedrichshagen, Marienhöhe, Sauen, Friedensstadt Weißenberg

Mi, 07.10. | 18 Uhr
2 Vorträge und Gespräch
„Bewegte Männer – Adolf Brand und seine homosexuelle Emanzipationsbewegung“, Andreas Pretzel
„Frauenbewegung und Ehereform – Positionen von Radikalfeministinnen am Anfang des 20. Jahrhunderts“, Dr. Ursula Ferdinand

Mi, 21.10. | 18 Uhr
Vortrag „Die Naturheilkunde bei der Behandlung von Allergien und Asthma – eine lange Geschichte“, Prof. Dr. med. Karl-Christian Bergmann und Dr. med. Ekkehard Beck

Mi, 04.11. | 18 Uhr
Vortrag „Die „Höhle des Zaratustra“ und der „grüne Mittelpunkt Deutschlands“ im Roten Luch (1921 – 1936), Dr. agr. Otfried Schröck

Mi, 18.11. | 18 Uhr
Vortrag „Neue Menschen“ ins „Dritte Reich“? Die Freikörperkultur im Nationalsozialismus, apl. Prof. Dr. Dr. Bernd Wedemeyer-Kolwe

Fußnoten:
 
[1] Zu dieser Zeit ist Berlin die einzige deutsche Millionenstadt und eine der größten Städte der Welt.
 
[2] Ausnahme: Die Zeitschrift „Der Eigene“ wird als erstes „Schwulenmagazin“ der Welt vorgestellt. Soweit richtig. Vom Vorwurf der Förderung und Idealisierung von Päderastie wird das Blatt aber in Schutz genommen, obwohl Knabenliebe und der pädagogische Eros eines Gustav(!) Wyneken Kern des Blattes „für männliche Kultur“ war.
 
[3] Siehe im Begleitbuch „Einfach. Natürlich. Leben. Lebensreform in Brandenburg 1890–1939“ auf Seite 63, „Der „Naturmensch“ Gustav Nagel als lebensreformerisches Gesamtkunstwerk“
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