von Arne
Joachim Fernau schrieb einst, man könne das Wesen der römischen virtus in zwei monologischen Sätzen ausdrücken: “Ich möchte mich ungern vor mir selbst schämen.” und “Wer, wenn nicht ich, ist Rom.” Diese zwei Sätze spiegeln auch im wesentlichen das Selbstverständnis Wilm Hosenfelds wider.
Wilhelm Hosenfeld wurde am 2. Mai 1895 in Mackenzell, einem kleinen Dorf am Rand der Rhön, als viertes von insgesamt sechs Kindern geboren. Da bereits sein Vater Volksschullehrer war, war für Hosenfeld nach der Grundschule die höhere Bildung bis zum pädagogischen Studium vorgesehen, um ihn auf den Beruf des Lehrers vorzubereiten. In seiner Schüler- und Studentenzeit schloß sich Hosenfeld dem Wandervogel an und nahm am Meißnertreffen 1913 teil. Diesen Kreisen verdankte er auch seinen Fahrtennamen „Wilm“. Mit vorgezogener Reifeprüfung schloß er eine Woche nach Beginn des ersten Weltkrieges das Studium ab und meldete sich freiwillig zum Militärdienst. Im Laufe des Krieges wurde er mehrfach verletzt, erhielt das Eiserne Kreuz II. Klasse und wurde zum Vizefeldwebel befördert.
Nach einer schweren Verletzung gegen Ende des Krieges, die ihn felddienstuntauglich werden ließ, wandte er sich zunächst wieder dem Wandervogel zu und trat sein Referendariat an verschiedenen Schulen in der Umgebung Mackenzells an. Er trat dem völkischen Jungdeutschen Bund bei und gründete in Rudolphshan eine eigene Gruppe. Auf einem überbündischen Treffen auf Burg Ludwigstein lernte Hosenfeld auch seine spätere Frau Annemarie Krummacher, Tochter einer Kunstmalerfamilie aus Worpswede, kennen. Die reformpädagogischen Strömungen in der Jugendbewegung beeinflußten ihn schon zu dieser Zeit, seinen pädagogischen Eifer konnte er aber mit größerer Freiheit erst nach seiner festen Anstellung als Lehrer und schließlich als Leiter der Volksschule Thalau 1927 ausleben.
Vom Nationalsozialismus war Hosenfeld in manchen Aspekten sehr begeistert, während er anderen Elementen kaum Beachtung schenkte. So sah er im Nationalsozialismus die einzige Möglichkeit einer Befreiung vom Versailler „Schanddiktat“ und in Hitler einen angemessenen Politiker für Deutschlands innen- wie außenpolitische Lage. Den nationalsozialistischen Antisemitismus wiederum scheint er kaum beachtet zu haben, und die Bekämpfung der katholischen Kirche durch den Nationalsozialismus die mit der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre immer mehr zunahm, schmerzte ihn, den frommen Katholiken, sehr. Dennoch trat er 1933 der SA – die gleichwohl in Thalau mehr dem Typus eines „Wehrvereins“ als eines Schlägertrupps entsprach –, nach der Zwangsauflösung des Katholischen Lehrerbundes dem Nationalsozialistischem Lehrerbund und schließlich 1935 der NSDAP bei. Im wesentlichen scheint sich Hosenfeld vom Nationalsozialismus eine Art Wandervogel-Gemeinschaft erhofft zu haben. Mit Enttäuschung stellte er jedoch fest: „Die Kameradschaft beim Bierglas ist nicht viel wert.“
Mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde Hosenfeld in die Wehrmacht eingezogen und zunächst im Range eines Feldwebels zur Rekrutenausbildung verwendet. Ohne an einem Gefecht teilgenommen zu haben, wurde er nach Warschau versetzt und dort zum Sport- und Gasoffizier seiner Kompanie befördert und begründete schließlich die „Wehrmacht-Sportschule“, die er bis zur Eroberung Warschaus und seiner Inhaftierung durch die Rote Armee leitete. In dieser Zeit half Hosenfeld zahlreichen verfolgten Polen und Juden, indem er sie mit Nahrung und falschen Ausweisen versorgte und zum Teil als Mitarbeiter der Sportschule tarnte.
Je länger der Krieg dauerte, desto mehr gewann Hosenfeld Einblick in das Ausmaß der Schlachterei, in die Grausamkeit der Behandlung der Kriegsgefangenen und der polnischen Zivilbevölkerung und nicht zuletzt die Vernichtung der Juden. Sowohl aus pragmatischer als auch idealistischer Sicht war Hosenfeld entsetzt, ein Gefühl, das sich beim polnischen Aufstand in Warschau steigerte. Über die schlechte Behandlung der Kriegsgefangenen schrieb er:
„[Das] ist so widerwärtig, unmenschlich und so einfältig dumm, daß man sich nur tief schämen kann, daß das bei uns geschehen kann.“ (Brief an seine Frau, 3.12.41)
Hosenfelds Reaktion war eine Vertiefung in seinen katholischen Glauben, der ihm Halt gab. Je mehr er persönlich vom Katholizismus beansprucht wurde, desto mehr deutete er auch das politische Geschehen in diesen Dimensionen. Nationalsozialismus und Bolschewismus, ihre jeweiligen Verbrechen und auch der zweite Weltkrieg erschienen ihm als Strafe für die Abkehr der Menschheit von Gott. Aus einem Tagebucheintrag zum 1.9.1942: „Warum mußte dieser Krieg überhaupt kommen? Den Menschen sollte einmal vor Augen geführt werden, wohin sie in ihrer Gottlosigkeit kommen.“ Apokalyptische Rhetorik durchzog Hosenfelds Schriften, er war überzeugt, daß alle Verbrechen einst gesühnt werden und daß die Strafe für die Schuld, die die Nationalsozialisten auf sich geladen hatten, das gesamte deutsche Volk treffen würden.
„Aus der Heiligen Schrift wird die Geschichte von der Sündflut [sic] berichtet. Was war der Grund zu dieser Tragödie des ersten Menschengeschlechts? Sie hatten Gott verlassen und mußten sterben, Schuldige und Unschuldige. Sie hatten sich das Strafgericht selbst zuzuschreiben. So auch heute.“ (Tagebucheintrag, 1.9.42)
Jedoch, Hosenfeld dachte nicht nur als Katholik, sondern auch als Deutscher über das politische Geschehen. Das Ergebnis dieser Betrachtungen war in erster Linie ein ausgeprägtes Gefühl der Scham. Zwar empfand er den Krieg als prinzipiell gerechtfertigt, wünschte sich auch bisweilen an die Front, um selber aktiv beitragen zu können, war stolz auf seine Verantwortung als Offizier der Wehrmacht und über die Leistungen der deutschen Soldaten. Doch er litt unter dem Zwiespalt zwischen Pflicht gegen den Vorgesetzten und Pflicht gegen ein Ideal. Hosenfeld sympathisierte mit dem polnischen Widerstand, er schrieb: „Gerade ein nationalistisch eingestelltes Volk müßte Verständnis dafür haben, daß ein Volk für seine Freiheit zu kämpfen hat.“ (Brief an Ehefrau, 15.9.44) Über den Kampf an der Ostfront: „Warum ist man nicht ritterlicher? Das ehrt doch beide Teile.“
Hosenfelds Bild des Deutschen kennt man aus Karl Mays Romanen: fromm, ehrlich, treu, bescheiden, dazu stark und überlegen im Kampf, eine Figur, die das Herz wärmt und die Augen leuchten läßt. Hosenfeld war maßlos enttäuscht, nicht nur darüber, daß dieses Ideal nicht erreicht wurde, sondern daß der Anspruch daran verschwunden zu sein schien. An seine Frau schrieb er: „Es gibt ja keine Ideale mehr, um die gekämpft wird im Volkstumskampf hier im Osten, und sittliche Maßstäbe, mit denen wir groß geworden sind, sind unmodern und belasten unsereinen.“ (Brief an Ehefrau, 26.1.41) Enttäuschung, Verbitterung und Scham beherrschten Hosenfeld, Scham für die Verbrechen des Nationalsozialismus, für das Volk, daß diesem die Macht gegeben hatte, für Hitler, für die verlorenen Ideale, Scham auch dafür, daß er, Wilm Hosenfeld, selbst nie genug tun konnte, um den mit Füßen Getretenen zu helfen, wenn auch seine Maxime lautete: „Ich versuche jeden zu retten, der zu retten ist.“ (Brief an Familie, 23.8.44)
In dieser Scham drückt sich das aus, was Fernau meinte: die ständige Identifizierung mit dem Staat – auch mit seinen Verbrechen. Und die Selbstdisziplin, die Hosenfeld zwang, sein Handeln stets nach den höchsten moralischen Maßstäben zu bewerten und so auch seinen eigenen Widerstand als ungenügend zu empfinden.
Am 13. August 1952, im Alter von 57 Jahren, starb Wilhelm Hosenfeld, zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt, im sowjetischen Kriegsgefangenenlager Stalingrad. Wilm Hosenfeld – Offizier, Wandervogel, Lehrer, Deutscher – er stellte einen Typus dar, der in seiner Aufrichtigkeit zur Achtung mahnt und als zeitloses Vorbild dient.
Bildquelle: Archiv Familie Hosenfeld
Wilms Wirken im Warschauer Ghetto wurde durch die Autobiographie von Władysław Szpilman, “Der Pianist, Mein wunderbares Überleben”, öffentlich bekannt. Die Verfilmung des Romans gewann mehrere Oscars.
Die folgenden Zitate geben einen kleinen Einblick in die Gedankenwelt des Menschen Wilm Hosenfeld, der viele rettete, dem die eigene Rettung aber verwehrt blieb:
„Ich sehe viel Roheit und Dummheit und Lügen und Verblendung. Dieser Krieg ist mit Unrecht über Unrecht beladen, keine hohe sittliche Idee ist da.“ (Brief an Ehefrau, 20.11.41)
„Erst hat der Bolschewismus Millionen umgebracht, um angeblich eine neue Weltordnung herbeizuführen. Er konnte das nur tun, weil er sich von Gott und von den christlichen Lehren abgewandt hat; dann tut der Nationalsozialismus in D[eutschland] dasselbe, verbietet die Religionsausübung, erzieht die Jugend ohne Religion, führt den Kampf gegen die Kirche, enteignet ihren Besitz, vergewaltigt Andersdenkende, erniedrigt die freie Persönlichkeit der Deutschen zu furchtsamen, unfreien Sklaven.“ […]
„Gott läßt das alles zu, läßt diese Mächte herrschen, läßt so viele Unschuldige umkommen, um der Menschheit vor Augen zu führen, ohne mich seid ihr Menschen tierhafte Kreaturen, die sich gegenseitig im Weg sind und vernichten zu müssen glauben.“(Tagebucheintrag, 1.9.42)
„Aber man kann das alles nicht glauben, ich wehre mich dagegen, es zu glauben, nicht nur aus Sorge für die Zukunft unseres Volkes, das ja einmal diese Ungeheuerlichkeiten büßen muß, sondern deswegen, weil ich nicht glauben will, daß Hitler so etwas will, daß es deutsche Menschen gibt, die solche Befehle geben.“
„Kann sich denn ein Deutscher noch auf der Welt sehen lassen? Sterben dafür unsere Soldaten draußen an der Front?“
„Daß man ein Volk […] abschlachtet, ausgerechnet wir, die wir den Kreuzzug gegen den Bolschewismus führen, das ist eine so entsetzliche Blutschuld, daß man vor Scham in den Boden sinken möchte.“
„Ist es wirklich so, daß der Teufel Menschengestalt angenommen hat? Ich zweifele nicht daran.“
(Brief an s. Frau, 23.7.42)
„Wenn das wahr ist, was in der Stadt erzählt wird, und zwar von glaubwürdigen Menschen, dann ist es keine Ehre, deutscher Offizier zu sein, dann kann man nicht mehr mitmachen. […] Aber das ist ja alles Wahnsinn, das kann doch nicht möglich sein.“ (Tagebucheintrag, 25.7.42)
Über das NS-Regime: „[Es ist] gegenwärtig von zwei Übeln das kleinere […]. Das größere ist, den Krieg zu verlieren.“ (Tagebucheintrag 7.8.42)
Über die Offiziere in der Etappe: „Sie fühlen sich in ihrer Ehre gekränkt angesichts der Schandtaten,) die durch die Beauftragten Himmlers an den Polen und Juden verübt werden. Sie müssen zu all diesen ungeheuren Greueln stillschweigen und wissen doch, daß sie im Ernstfall und bei der unausbleiblichen Reaktion das alles mitverantworten müssen und mit den Soldaten kämpfen müssen.“ (Tagebucheintrag, 6.9.42)
„Und wir Toren glaubten, sie könnten uns eine bessere Zukunft bringen. Als Schande muß jeder Mensch es heute empfinden, daß er auch nur im geringsten dieses System bejahte.“ (Tagebucheintrag 28.3.43)
„Diese Bestien. Mit diesem entsetzlichen Judenmassenmord haben wir den Krieg verloren. Eine untilgbare Schande, einen unauslöschlichen Fluch haben wir auf uns gebracht. Wir verdienen keine Gnade, wir sind alle mitschuldig. Ich schäme mich, in die Stadt zu gehen, jeder Pole hat das Recht, vor unsereinem auszuspucken. Täglich werden deutsche Soldaten erschossen, es wird noch schlimmer kommen, und wir haben kein Recht, uns darüber zu beschweren. Wir haben’s nicht anders verdient.“ (Tagebucheintrag 16.6.43)
„Unter entsetzlichen Schmerzen wird etwas Neues, Größeres und Schöneres geboren. Es gibt auf der Welt keinen Untergang, keinen Tod ohne Hoffnung auf Auferstehung. […] Der einzelne Mensch wird ausgelöscht, aber die Menschheit wird weiterleben, und ich glaube, sie wird besser und schöner aus der Katastrophe hervorgehen. Darum lohnt es zu leben und zu hoffen.“ (Brief an s. Frau, 16.3.44)
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Wilm Hosenfeld, Ich versuche jeden zu retten
Das Leben eines deutschen Offiziers in Briefen und Tagebüchern
Deutsche Verlags-Anstalt (DVA), München 2004
ISBN-10 3421057761
ISBN-13 9783421057761
Gebunden, 1194 Seiten, 29,90 EUR