gustaf nagel – ich komme zu euch in friden

von bjo:rn

 Von den ersten Propheten weiß man nachweislich schon seit Jahrtausenden, mindestens 18 Jahrhunderte vor jenem jungen Mann aus Nazareth, der wohl bis heute die nachhaltigste Wirkung von allen Wanderpredigern haben sollte. Sendboten Gottes und einer gottgleichen Idee gab es vielerorts zu allen möglichen Zeiten. Sie nannten und verstanden sich als Seher, Druiden, Jünger, Künder, Auguren oder Apostel. War man nicht unterwegs, wohnte man an exponierter Stelle, auf Bergen, Inseln, in Türmen, Höhlen, abgelegenen Hütten und später auch in Klöstern und anderen Gottesbauten – mal ganz karg und mal ganz prächtig, selten etwas dazwischen. Der Übergang zu Visionären und Spökenkiekern war hierbei oft fließend. Mit dem Bau von besagten Häusern wurde man heimisch, und das wandernde Prophetentum kam in die Krise.

Dies änderte sich schlagartig, als vor etwas mehr als 100 Jahren die Industrialisierung mit allem Wohl und Weh über die Menschheit kam. So mancher holte damals den Lendenschurz seiner Vorfahren aus dem Schrank, zupfte noch schnell den Kohlrabi aus dem Gemüsebeet und entfloh der miefigen Stadtluft. Einer von ihnen beendete am 15. Februar 1952, also vor genau 60 Jahren, seine Reise auf dieser Welt. Grund genug, sich sein Leben einmal genauer anzuschauen.

Am 18. März 1874 wurde Carl Gustav Adolf Nagel in Werben an der Elbe geboren. Der Wirtsleutesohn begann eine Kaufmannslehre im altmärkischen Arendsee, die er aufgrund einer Schleimhautentzündung frühzeitig abbrechen mußte. Sein Arzt verschrieb ihm viel frische Luft, und diesem Rat kam Gustav mehr als nach. Er lebte fortan in einer Erdhöhle nahe der Stadt, wurde vom berühmten Pfarrer Kneipp von seinen Leiden befreit und verschrieb sich fortan ganz der noch jungen Lebensreformbewegung. Zeitgleich mit den ersten Wandervögeln unternahm er 1898 eigenständig erste Wanderungen durch Brandenburg und Sachsen. Im gleichen Jahr entwickelte er seine eigene ortografi, die auf große und aus seiner Sicht unnütze Buchstaben verzichtete. Aus Gustav Nagel wurde Schritt für Schritt gustaf nagel. Auf dem Pilgerweg nach Jerusalem trugen ihn seine blanken Füße auch auf den Monte Verità, den Berg der Wahrheit. Eine Zeitzeugin wußte zu berichten:

„Gustav Nagel tritt am 17. November vor unsere erstaunte Gruppe. Heftiges Schneegestöber hindert ihn nicht, blossfüssig und nur mit einem kurzen Hemde bekleidet einherzugehen. Helle Freude breitet sich über die Züge der Anwesenden; der Anblick seiner Persönlichkeit wirkt erfrischend; er macht den Eindruck eines Genesenden, aber noch nicht Gesunden. Seine Gestalt, sein von lockigem Haar umwallter Kopf sind schön. Ausdruck und Haltung sind edel, seine Augen jedoch sind unstet – er lacht oft kurz und grundlos auf. […] Er verkauft viele Ansichtskarten mit seinem eigenen Bildnis an uns, schläft, schläft morgens bis 11 Uhr, läßt sich sein Essen zum Bett bringen, hüllt sich tagsüber nackt in eine wollene Decke, friert dabei jämmerlich und eilt von Unruhe getrieben nach zweitägigem Aufenthalt zum Schiffe, das ihn weiter nach Süden bringen soll.“ (Ida Hofmann, zitiert in Ulrike Voswinkel, Freie Liebe und Anarchie, Allitera 2009)

 

Über Genua, Neapel, Capri, wo er auf den Maler Karl Wilhelm Diefenbach traf, pilgerte er über Port Said und Alexandria weiter nach Haifa. Dort begegnete er Anton Walther Florus Gueth, der zwei Jahre später unter dem Namen Nyānatiloka Mahāthera erster buddhistischer Mönch deutscher Herkunft werden sollte. Dieser fand für ihre Begegnung in seiner Biographie die folgenden Worte:

 

„In Haifa I met Gustav Nagel, the „nature man“ and later Reichstag candidate. He immediately came and greeted me with the words, “How you are doing, compatriot?” I lived a few days with him and must admit, putting aside a few whims, that he made a really sympathetic impression on me.“ (zitiert aus The Life of Nyanatiloka Thera, Buddhist Publication Society 2008)

Es ist ein faszinierender Gedanke, daß es Zeiten gab, in denen Reisende einer höheren Motivation und weniger einem allgemeinen Bedürfnis nach Spaß und Sonne folgten. Irgendwann trennte man sich und ging seinen eigenen Pfaden nach. Fast scheiterte gustafs Pilgerfahrt kurz vor dem Ziel. Am 22. Dezember 1902 steckte er wegen Cholera fest, erreichte dann aber gerade noch rechtzeitig Bethlehem, um dort am Weihnachtsgottesdienst teilzunehmen. Über Jerusalem, Konstantinopel und Bukarest fand er den Weg zurück.

Zuhause setzte er sein außergewöhnliches Leben fort, stets begleitet von amtlichen Entmündigungen, ärztlichen Gutachten und Gegengutachten sowie Verurteilungen wegen groben und weniger groben Unfugs. Und selbst bei einigen Wandervögeln kamen er und die seinen nicht immer gut an:

„Auf der Sachsenburg aber sahen wir Maskeraden und Anhänger des >gustaf nagel<, so daß man sich fragte, was hat denn das alles mit den Jugendwanderungen der gebildeten Jugend zu tun. […] Roter Filz, Lodenanzug mit Kniehosen, keine Strümpfe, dagegen am Rucksack, einen gewissen Wohlstand verratend, ein paar Stiefel und Hausschuhe hängend. Das ist wohl ein Anzug, wie ihn ein Handwerksbursche trägt. Ein anderer legte zur Führersitzung alle überflüssigen Kleidungsstücke ab, dafür trug er im Lederriemen ein Beil, stolz in seiner Würde als Germanenhäuptling.“ (Erich Wolfrom, in Nordthuringia, Zeitschrift für Heimat und Wanderungen, Nummer 4, 1910)

An gustafs Gepäck baumelte gleichwohl nie Unnützes wie Stiefel oder gar Hausschuhe. Seiner Barfüßigkeit blieb er zeitlebens treu, in warmen wie in kalten Tagen. Als er in Arendsee seßhaft wurde, gründete er eine Badeanstalt, die er „Garten Eden“ nannte, und startete mit kleineren Tempelbauten.

Doch allen Huldigungen zum Trotz meinten es 1914 die Götter nicht gut mit den Menschen. Die Zeiten standen auf Sturm. Selbst der Naturbursche gustaf vermochte es nicht, sich aus den Wirren der Vorkriegszeit herauszuhalten. Auf sogenannten krigsforträgen hielt er patriotische Reden, die aber nicht nur seines Erscheinungsbildes wegen einen anderen Klang als so manche Brandrede seiner Zeit gehabt haben dürften. Einer zeitgenössischen Schrift entnehmen wir:

„Der „Naturmensch“ „gustaf nagel“ hat nun auch mobilgemacht; er hat mit seiner Frau eine Vortragsreise angetreten, die das Paar zunächst nach Braunschweig führte. Das Erscheinen „gustaf nagels“ in den Straßen der Stadt, die er barhäuptig und barfuß durchschritt, erregte allgemeines Aufsehen. Seine ihn begleitende Gattin hatte es vorgezogen, sich in der Kleidung mehr der winterlichen Jahreszeit anzupassen.“ (aus Eberhard Buchner, Kriegsdokumente: Der Weltkrieg 1914 in der Darstellung der zeitgenössischen Presse, Band 7)

Er selbst wurde als wehruntauglich eingestuft. So kamen 1913 und in den Kriegsjahren seine Kinder auf die Welt, die fortan auch barfüßig durchs Leben gingen. Mit den Frauen hatte er weniger Glück, er heiratete mehrmals, und auch seine Kandidatur zur Reichstagswahl brachte ihm überschaubare 6.448 Stimmen für seine deutsch-kristliche folkspartei ein. Für seine Vorträge und sein Strandbad konnte er weitaus mehr Leute begeistern.

Ebenso engagierte er sich 1935 gegen die spürbare Aufrüstung und sendete anläßlich der Olympischen Spiele in Berlin seine Friedensbotschaft in die Welt. In den darauffolgenden Jahren war er vielfachen Repressionen ausgesetzt. Zuerst war es ihm nur untersagt, seine libesfane zu hissen. Es folgten die Zerstörung seiner Anlagen, Diebstahl weiterer Fahnen seitens der örtlichen HJ, Beobachtung durch Gestapo wegen „staatsfeindlichen Verhaltens“, Schutzhaft im Konzentrationslager Dachau und letztlich die Überführung in die Nervenheilanstalt Uchtspringe.

Nach dem Krieg kehrte er nach Arendsee zurück und begann den Wiederaufbau seines Gartens Eden. Erneut richtete er eine musikalische Friedensbotschaft nach Berlin, diesmal an die vier alliierten Stadtkommandanten. Er fand abermals kein Gehör, wenn man von jenen Besuchern absieht, die dem alten Greis einen Streich spielten und ihm angebliche Friedensverträge zur Unterzeichnung vorlegten. Die neuen sowjetischen Machthaber hatten dagegen kein Interesse an Querdenkern wie Nagel. Es war ihm nicht vergönnt, das Ende seines Lebens am Arendsee zu verbringen. Abermals verbannte man ihn nach Uchtspringe.

Einst verkündete er auf einem Banner „ich komme zu euch in friden“. Ganz ohne Banner und Anhängerschar schied er am 15. Februar aus dem Leben.

 

„scheiden dan auch wir fon

o arendse gen wider,

was dan got ferklärte mir,

auch got se auf dich nider;

 

heilge, got o fater mir,

des arendses stätte,

das die liebe waltet hir,

und jeder lib dich hätte;

 

o du schöner arendsee,

du auge meiner libe,

nimmer gern ich fon dir ge,

du wekst mir fromme triebe.“

 

Einige Tage nach seinem Tod wurde Gustav Nagel auf dem städtischen Friedhof in Arendsee beigesetzt. Sein Grab und Reste seiner Tempelanlagen künden noch heute von einem außergewöhnlichen Leben.

Folgende Bücher sind zum Verständnis des Phänomens „Kohlrabiapostel“ gewiß hilfreich:

Ulrich Linse, Barfüßige Propheten – Erlöser der zwanziger Jahre, Siedler 1983

Ulrich Holbein, Drum Tao-Wind ins Winterland! – Drei radikale Naturpropheten: Diefenbach, Nagel, Gräser, Der grüne Zweig 260

video: die altmark – barfuß unterm baumkuchen

Zuguterletzt erinnern wir an unseren Artikel zum Oberdada.

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