von rosé
In diesem Jahr wäre Gertrud „Tutta“ Classen 105 Jahre alt geworden… doch wer war sie überhaupt? Wer kennt den Namen dieser Streiterin für eigenständig-weibliches Wandervogelsein?
Gertrud Classen wurde am 3. Juli 1905 in Königsberg/Ostpreußen geboren. In jungen Jahren war die spätere Bildhauerin bereits künstlerisch interessiert und erhielt beim Elbinger Maler Paul Emil Gabel ihren ersten Mal- und Zeichenunterricht. Etwa zur gleichen Zeit fand sie auch zum Wandervogel. 1919 gehörte sie zunächst in Elbing dem Wandervogel e.V. an, dann engagierte sie sich beim Wandervogel – Wehrbund deutscher Jugend und schließlich ab 1924 im Wandervogel Mädchenbund, in dem sie 1925 mit 20 Jahren zur Bundesführerin gewählt werden sollte.
Die jungen Wandervogelmädchen sahen in den immer stärker männlich dominierten Bünden keinen Platz mehr für sich: Sie sehnten sich nach Selbstständigkeit und eigenen Formen des weiblichen Wandervogeldaseins. Dabei klangen die Worte der 19 Jährigen Gertrud Classen nicht viel anders als die der Jungen: „Unsere Zeit erfordert Großes von uns. Selbstzucht, Härte gegen alles Sinnlose in uns. Das wird uns fester binden als alles An-einander-vorbeireden. Und immer das Gewaltige vor der Seele: Weib werden im höchsten, im blutvollen Sinne. Nichts fehlt unserem Volke so, wie stolze, wahre Frauen. Nur aus ihnen kann das Geschlecht hervorgehen, dem unsere Sehnsucht gilt.“ (Wandervogel-Mädchenbund. Bundesrundbrief 1, Sept. 1924, S.9) Gertrud bzw. „Tutta“, wie sie im Wandervogel genannt wurde, wollte bei allem gemeinsamen Streben kein bloßes Anhängsel der Jungenbünde sein. So schrieb sie 1926 nach einem Angebot des Bundes der Wandervögel und Pfadfinder auf eine Aufnahme in jenen: „Die Bündnis-Mädchen unter der Führung von Josi von Maydell sind an uns herangetreten, ob wir nicht in diesen Bund gehen und mitschaffen wollen. Wir haben eine Sympathie für solch einen Bund der Bünde. Aber diese Art, einen Jungenbund zu gründen mit Mädchen darin, gibt zu denken und läßt nicht gerade einen Fortschritt erkennen. Sie gibt vielleicht einen Maßstab für das Niveau des Bundes in die Hand und zeigt, daß die Reife, die solch ein Bund Deutscher Jungen und Mädchen endlich einmal eine zähere Grundlage geben könnte, noch fehlt. Wir stehen wohl für die Notwendigkeit des getrennten Lebens. Aber solch ein Bund, wie wir ihn uns denken, erfordert eine bedingungslose Achtung der Geschlechter, um, wo es notwendig ist, eine fruchtbare Zusammenarbeit zu ermöglichen. An eben diese Haltung dort können wir nicht glauben.“ (Die Wandervogel-Mädchen 1, 1926, S.3)
Im gleichen Jahr, sie ist nun eine mittlerweile 21 jährige Studentin an der Königsberger Kunstakademie, zieht sie in den Semesterferien zusammen mit ihrer Wandervogelkameradin Edith Dulon auf „Zwei-Frauen-Großfahrt“ nach Norwegen. Wenig später scheint Tutta ihre Meinung zum Bund der Wandervögel und Pfadfinder geändert zu haben. Zusammen mit Josefine „Josi“ von Maydell wird sie Führerin der Mädchen in der Deutschen Freischar – Bund der Wandervögel und Pfadfinder. Auch dort ringt sie weiter um ein selbstständiges Reich der Mädchen und Eigenständigkeit, will kein Anhängsel der dominierenden Jungenschaft sein. Im Herbst 1928 kommt es schließlich zum Bruch zwischen Josi und Tutta, zwischen den Vorstellungen eines, wie man heute sagen würde, koedukativen Bundes und dem Streben nach weiblicher Autonomie.
Während Tutta 1928 zusammen mit ihrer alten Wandervogelkameradin Marie Luise von Hammerstein dem Kommunistischen Jugendverband Deutschlands (KJVD) und der kommunistischen Partei (KPD) beitritt, heiratet Josi kurze Zeit später 1929 den aus dem Köngener Bund stammenden Herbert Grabert und engagiert sich in der Deutschen Glaubensbewegung von Jakob Wilhelm Hauer.
1930 wechselt Tutta an die Berliner Akademie für Grafik und Steinbildhauerei und gründet dort die „Gruppe Revolutionärer Fach- und Kunsthochschüler“. Zudem wird sie, zusammen mit Marie Luise von Hammerstein, der Tochter des Reichswehrgenerals Kurt von Hammerstein-Equord, Mitglied im AM-Apparat – dem geheimen Nachrichtendienst der Kommunistischen Partei. Trotz illegaler Betätigungen während des Dritten Reiches – so beschaffte sie nach dem 20. Juli 1944 dem Adjutanten des Generals von Beck, Ludwig von Hammerstein, falsche Papiere – und mehrfacher Inhaftierung durch die Gestapo, überlebt sie diese Zeit, nicht zuletzt durch alte Verbindungen zu ihren Kameradinnen aus dem Wandervogel und der Freischar. Nach 1945 blieb sie in Ost-Berlin und sollte in der DDR eine erfolgreiche Bildhauerin werden.
Gegen Ende ihres Lebens knüpfte sie erneut den Kontakt zu ihren früheren Wandervogelkameradinnen in West und Ost an. Sie hatte durch Zufall von dem großen Dokumentationsprojekt zur Geschichte der Jugendbewegung gehört, daß Werner Kindt zusammentrug. Eifrig sammelte sie Unterlagen zur Geschichte des Wandervogel-Mädchenbundes und den Emanzipationsbestrebungen der Wandervogelmädchen der zwanziger Jahre und trat mit Werner Kindt 1974 in einen Briefwechsel. Es war zu spät! Das Werk war wenige Monate zuvor abgeschlossen worden. Gertrud Classen entschloß sich, ein eigenes Buch zur Geschichte der weiblichen Jugendbewegung zu schreiben: „Obwohl ich recht krank bin, habe ich mich entschlossen, material zu sammeln für ein buch über die „weibliche jugendbewegung“, um diese lücke auszufüllen und das grundmaterial sicherzustellen für die nachwelt.“ (Schreiben an Werner Kindt vom Juni 1974, zitiert Klönne, Irmgard, 2000, S.27.) Das Buch sollte jedoch nie erscheinen. Gertrud „Tutta“ Classen starb am 3. September 1974 in Ostberlin.
Vermutlich gab es wenige Kommunisten, die im Jahrbuch der westpreußischen Landsmannschaft einen so würdigenden Nachruf erhielten: „Sie war eine von ihren Idealen durchdrängte, kämpferische Kommunistin. Das hinderte sie nicht, mit großer Liebe an ihrer Heimat und an den Freunden ihrer Jugend zu hängen.“ (Westpreußisches Jahrbuch 27-30, 1976, S.)
Weiterführendes:
Dokumente zu Gertrud Classen:
Großfahrtenbericht 1926 Dänemark-Norwegen. In: Wandervogel Mädchenbund. 5. Heft des Bundes, Dezember 1926: Auslandsfahrten, S.20-24.
Bund der Mädchen und Frauen im Wandervogel. In: Die Wandervogel-Mädchen. 1. Heft, Ernting 1926. gemeinsam herausgegeben vom Wandervogel-Mädchenbund und vom Alt-Wandervogel-Mädchenbund e.V., S.2-5.
Dokument zu Marie Luise von Hammerstein:
Politik. In: Wandervogel Mädchenbund. 2. Heft des Bundes, September 1925, S.9-10.
Lesen:
Schade, Rosemarie (1996)
Ein weibliches Utopia. Organisationen und Ideologien der Mädchen und Frauen in der bürgerlichen Jugendbewegung 1905-1933. (=Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung Bd.10) Witzenhausen.
Klönne, Irmgard (2000)
Jugend weiblich und bewegt. Mädchen und Frauen in deutschen Jugendbünden. Stuttgart.
Enzensberger, Hans Magnus (2008)
Hammerstein oder der Eigensinn. Eine deutsche Geschichte. Frankfurt am Main.
Kommen:
Archivtagung des Archivs der deutschen Jugendbewegung vom 22.-24.10.2010 über Geschlechterverhältnisse in der deutschen Jugendbewegung: http://www.burgludwigstein.de/Tagungen.197.0.html