Das Leben als Anderer

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Published on: 15. Oktober 2010

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Vor einigen Tagen fuhr ich recht spontan auf den Enno, um dort einige Tage mitzubauen.  Freudig die schon Anwesenden begrüßend, verweigerte mir ein Jugendbewegter unbegründet den sonst gewährten Handschlag. Das Grübeln über die Hintergründe endete erst mit dem morgendlichen Überstreifen der Arbeitshandschuhe. Doch auf dem Rückweg fragte mich ein Mitbauer, was es denn damit auf sich hätte. Nichts als ein Schulterzucken konnte ich erwidern.

Daheim stieß ich eher zufällig auf einen Artikel, in dem behauptet wird, ich sei auf einer Tanzveranstaltung in Berlin anwesend gewesen. Diese neuerliche Lüge wurde hinterlegt mit einem Fahndungsplakat der Berliner Antifa aus den 90er-Jahren, in dem mir eine NPD-Mitgliedschaft und brutale Nazischlägermentalität unterstellt wird. Eine damalige Anzeige scheiterte aufgrund falscher Impressumangaben. Die Lüge lebt also wieder auf und fort!

mauerfotoWie so oft in den letzten Monaten kamen Erinnerungen an meine Jugendjahre hoch. In den Vorwendejahren nutzte ich meinen pubertierenden Drang auf Montagsdemos und durch das Sprühen staatskritischer Parolen. So sprühte ich „Deutschland einig Vaterland“, „Einheit“ und weitere ungemütliche Forderungen mit Schuhcreme an die Schulturnhalle. Beim Spruch „Kirsch du alte …“ erschien die Volkspolizei und nach kurzer Flucht war ich gestellt und geständig. Die Parolen wurden von mir neutralisiert, doch der unfertige Satz erwuchs in unserer Schule zum geflügelten Wortspiel. Mein Staatsbürgerkundelehrer Herr Kirsch war fortan freundlicher denn je zu mir, was ich erstaunlich fand. Er selbst nahm sich nicht minder erstaunenswert am 10. November 1989 die Freiheit, seinem Unterricht unentschuldigt fernzubleiben. Ich selbst war anständig und fuhr erst nach der Schule in den offenen Westen und schnupperte Freiheit.

In den Nachwendejahren wurde mein Drang erstmal gesättigt, zu viel galt es zu entdecken. Doch mit jeder Entdeckung wuchs das Unbehagen, das Gold des Westens bekam erste Risse. Ich betätigte mich zunehmend in rechten, auch extremen, Kreisen, was mir damals als größte Protestbasis erschien. Schon damals verweigerten mir einige NS-Anhänger den Handschlag, was mich allerdings weniger berührte. Diese Grenzziehung kam mir vielmehr gerade recht. Doch auch innerhalb demokratischer Grenzmarken wollte der politische Funke nicht recht überspringen. Eine Mitgliedschaft in einer Partei oder politischen Vereinigung stand für mich nie zur Debatte. Ich begeisterte mich zunehmend für das Kulturelle und ließ den politischen Kampf und Zwist hinter mir. Als kleines Abschiedsgeschenk klebten engagierte Mitmenschen großräumig in Berlin das beschriebene Fahndungsplakat, um Andersdenkende vor Andersdenkenden zu warnen. Es ist ein mehr als ein mulmiges Gefühl, sich einem Schwerverbrecher gleich plakatiert zu sehen. Aber das war gewiß auch Ziel der Sache.

In diese Jahre der Umorientierung fällt die Gründung des Tanzkreises Spreeathen. Mit Neugierigen aus dem Freundes- und Bekanntenkreis wagten wir erste Schritte. Im Vordergrund stand stets die Freude am Tanz, am Erlernen, an der Bewegung. So stießen nach Artikeln in regionalen Zeitungen neue Tänzer hinzu, die wohl vormals, wie auch wir, nur in der Disko und auf Familienfesten tanzten. Mein damaliger erweiterter Freundeskreis nahm diese Freude am Anderssein mit einem Schmunzeln zur Kenntnis. Doch als ich den Tanzkreis im Radio vorstellte, holten mich meine politischen Wanderjahre wieder ein. Ein anonymer Anrufer drohte zeitgleich mit der Sendung erst meinen gänzlich unpolitischen Eltern und später mir selbst. „Wir kriegen dich!“ Ein zweites Mal war mir mehr als mulmig im Magen. Trotz allem übten wir fleißig und tanzten fortan auf Volksfesten, Messen, auf nationalen und internationalen Tanztreffen. Einen letzten Auftritt gab es 2005 auf dem interkulturellen Fest „Bewegte Welten“ in Berlin Neukölln. Schließlich steht bis heute in der Satzung des Vereins geschrieben:

„Durch Kenntnis eigener und fremder Kulturen soll das Verständnis für Völkerverständigung, den demokratischen Staatsgedanken und Heimatbewußtsein gefördert werden.“

In selben Jahr lud der Verein ein letztes Mal zum alljährlichen Gründungsfest. Die Vereinsstrukturen hatten sich bis dahin mehr als gelöst. Man tanzte entweder wieder in Diskos, gar nicht mehr oder in anderen Kreisen. Auf einer Mitgliederversammlung in diesem Jahr wurde die längst überfällige Auflösung des Vereins beschlossen.

Über den Tanz lernte ich den Freibund und mit ihm eine mir gänzlich neue Ideenwelt kennen – die Jugendbewegung. Meine Vergangenheit stellte zwar eine Ausnahme im Bundesleben dar, aber man begegnete mir vorurteilsfrei, was meine Integration in den Bund erleichterte. Wenn man nun versucht, meine Vergangenheit meinem späteren Bund anzuhängen, so ist dies nichts als ein politisches „Perpetuum mobile“.

Ohne hier einige Initiativen in Frage zu stellen, der Freibund war für mich das förderlichste und für die steuerzahlende Allgemeinheit das günstigste „Aussteigerprogramm“. Schließlich zahlte ich meine großen und kleinen Fahrten stets aus eigener Tasche und das mit voller Begeisterung. Diese Begeisterung hält bis heute an auch wenn mein sonst recht fröhliches Gemüt allzu oft getrübt wird. Sei es durch Gewaltandrohung von ganz rechts, durch ziemlich eindeutige Drohanrufe bei mir daheim oder eben durch „linke“ Lügenplakate. Der einzige Vorteil der daraus erwächst – die Grenzen meiner Toleranz stecken sich so von ganz alleine ab. Wer sich anmaßt, die demokratisch legitimen Freiheiten anderer und meiner selbst zu beschneiden, der soll mir gestohlen bleiben.

Von einigen Jugendbewegten wird beklagt, daß zu Unrecht der Vergleich mit der unrühmlichen Staatssicherheit herangezogen wird. Als Antwort möchte ich kommentarlos die dazu passende Richtlinie zitieren. Bezüglich bewährter Formen der Zersetzung heißt es dort:

«…systematische Diskreditierung des öffentlichen Rufes, des Ansehens und des Prestiges auf der Grundlage miteinander verbundener wahrer, überprüfbarer und diskreditierender sowie unwahrer, glaubhafter, nicht widerlegbarer und damit ebenfalls diskreditierender Angaben…» (Geheime Verschlußsache, GVS MfS 008-100/76: Richtlinie Nr. 1/76)

bekanntmachung

(Bildquelle: Antifa, Verzerrungen nicht im Original)


Nachtrag:

Das zuständige Landgericht Berlin hat bezüglich der Veröffentlichung des Plakates und der damit getätigten Aussagen am 19. November 2010 eine einstweilige Verfügung gegen die Verantwortlichen erlassen.

So heißt es in dem Beschluß:

„Dem Antragsgegner wird bei Vermeidung eines vom Gericht für jeden Fall der Zuwiderhandlung festzusetzenden Ordnungsgeldes bis zu 250.000 EUR, ersatzweise Ordnungshaft, oder einer Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, untersagt, sich in Bezug auf den Antragsteller wie im Internet auf der Seite www.xxx.xxxxxx.de geschehen und nachstehend wiedergegeben, zu äußern und/oder äußern zu lassen.“

Seit einigen Wochen wartete ein anderer Blog im Internet mit einer „Skandalmeldung“ bezüglich des Tanzkreises auf. Es ging um eine kleine Anfrage im Bundestag. Einige Wochen ignorierte man die Antwort und stellt nun doch fest, daß diese kleine Anfrage „ergebnislos“ blieb. Auf welches „Ergebnis“ man hoffte, darüber darf spekuliert werden. Die Antwort der Bundesregierung kann kurz zusammengefaßt werden: Der Bundesregierung liegen weder Erkenntnisse gegen den Tanzkreis vor, noch sieht man Veranlassung, die Einschätzung weiterer Jugendbünde zu revidieren. Für einige Fragende wird bis zum richtigen „Ergebnis“ doch weiterhin das Motto zählen: Fragen wird doch noch erlaubt sein. In diesem Sinne: Wer zählt mit?


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