von Hauke
Als wir an einem Oktobertag bei strahlendem Sonnenschein in Santiago de Chile gen Süden aufbrechen, sind wir relativ ahnungslos in bezug auf das, was uns in den nächsten 30 Stunden erwarten wird.
Von Nerother-Bundesbrüdern hatte ich zuvor von der kleinen deutschen Kolonie in Mittelchile gehört, die wir nun zu besuchen beabsichtigen, mein Bild rührt aber vor allem aus Presseberichten der letzten Jahre: Eine sektenähnliche Gemeinschaft, ein despotischer Herrscher und Anführer, Foltervorwürfe und dunkle Kapitel aus der Zeit des Regimes Augusto Pinochets bilden den Rahmen meiner Eindrücke. Nun wollen mein deutsch-chilenischer Freund und ich jenen Ort selber kennenlernen, uns ein Bild machen von dieser Geschichte und den so fern ihrer alten Heimat in sie verwickelten und gefangenen Deutschen.
Uns trennen 350 km Fahrt von der pulsierenden Hauptstadt des Landes, bis wir nach weiteren etwa 50 km Schotterpiste durch endlose Wälder und malerische Täler vor einem großen Stein mit der Aufschrift „Villa Baviera“ stehen. Dahinter öffnet sich dem Ankommenden ein von Bergen umschlossenes Tal, völlig versteckt vor der Außenwelt und ein wenig den Schilderungen aus den Entdeckerbüchern des frühen Amerikas gleich. Der offensichtlich frisch eingesetzte Stein verdeckt nur kurz den Blick auf einen weitreichenden Stacheldrahtzaun, der die Landschaft durchschneidet.
Dieser verbarg seit 1961 für mehr als vierzig Jahre die kleine deutsche Gemeinschaft vor den Augen der Welt. Als wir am Tor anlangen, läuft hastig winkend eine Dame heran, die wohl jünger als ihr Äußeres sein mag, und fragt mißtrauisch und zugleich seltsam freundlich nach unserem Wohin – schon hier fällt mir auf: in Sprache und Kleidung gleicht sie einem Relikt der fünfziger Jahre, fast gespenstisch scheint die Zeit spurlos an ihr vorübergezogen zu sein und sie vergessen zu haben.
Wenig später treffen wir im Zentrum der Siedlung J. und A., mit denen mein Freund zuvor in Kontakt stand. In München hatte er einen Vortrag ihres Bruders gehört, der mit einem Buch über das Leben in der Colonia Dignidad bundesweit Aufsehen erregen konnte. Es vergeht nur kurze Zeit des Kennenlernens, und sofort verstehen wir uns gut, sitzen in dem Siedlungsrestaurant zusammen und versinken mit den beiden in einer Welt, von der wir zuvor nichts geahnt hatten. Aus dem Abend wird eine lange Nacht, und die Einladung, als ihre Gäste zu bleiben, nehmen wir gerne an. Wie Fremde, die unbefugt in das Leben eines anderen eindringen, lauschen wir ihrer Geschichte, stellen Fragen, erhalten Antworten und ahnen doch, daß die Zeit nicht reichen wird.
Völlig isoliert vom Rest der Welt sind sie in diesem Tal unter ihrem Anführer Paul Schäfer aufgewachsen und erzählen von Gründung, Aufstieg und tiefem Fall der Kolonie im Lauf der Jahre.
Im Jahre 1956 gründet der Kriegsheimkehrer Paul Schäfer die „Private Sociale Mission“ in Siegburg bei Bonn und errichtet ein Gemeinschaftshaus für die ihm hörigen Sektenmitglieder seiner Freikirche. Nach außen eine glückliche Gemeinschaft, gehen Schein und Sein auseinander, und seine Anhänger müssen alle familiären Bindungen nach und nach gänzlich aufgeben. Schäfer predigt, ein freier Christ könne Gott besser dienen.
Wie auch zuvor in Jugendgruppen, in denen er durch seine pädophile Neigung aufgefallen war, nötigt er der Gemeinde intime Beichten ab und verlangt von seinen Gläubigen sexuelle Askese, während er selber bereits kleine Jungen mißbraucht. Als im Jahre 1961 die Staatsanwaltschaft Ermittlungen wegen des Verdachts auf sexuellen Mißbrauch aufnimmt, schafft Schäfer es, einen großen Teil seiner Sektenmitglieder mit falschen Versprechungen von einem „urchristlichen Leben im gelobten Land“ zur fluchtartigen Ausreise nach Chile zu bewegen. Noch Zögernden und Ängstlichen, die nicht einfach ihr altes Leben hinter sich lassen wollen, droht er mit einer angeblich bevorstehenden russischen Invasion in Deutschland. So ziehen etwa einhundert Personen mit ihm in die Fremde – einige Minderjährige, deren Eltern ihre Erlaubnis zu einer angeblichen Chorfreizeit gegeben haben, entführt er nach Chile.
Zuvor bereits hat Schäfer ein geeignetes Stück Land, weit entfernt von den Städten und malerisch aber unerschlossen in den Bergen gelegen, gefunden und dem chilenischen Staat abgekauft.
So wird im Jahre 1961 die „Sociedad Benefactora y Educacional Dignidad“ (auf Deutsch: “Gesellschaft für Wohltätigkeit und Erziehungsanstalt der Würde”) gegründet. Auf rund 30.000 Hektar wilden Landes beginnt nun ein Stück Aufbauarbeit, das zu dieser Zeit wohl seinesgleichen sucht und aus der Einöde in kürzester Zeit ein „Mustergut“ macht. Angetrieben von ihrem eisernen Anführer Schäfer, der harte Arbeit und Enthaltsamkeit predigt, bauen die deutschen Siedler Straßen und Brücken, machen das unwirtliche Land urbar, legen Felder und Plantagen an und graben sogar eine Gold- und eine Titanmine.
Es sind dies Bilder einer Pioniergeschichte, eines unglaublichen Erfolges, Zeugnis von Fleiß und Mühen und dem Ringen des Menschen gegen die Natur. Die Gemeinschaft trotzt dem rauhen Land ihr eigenes Paradies ab, ein Stück Deutschland von der Größe des Saarlandes mitten in Chile.
Doch die Schattenseiten sind unübersehbar: Zwang und Ausbeutung, Erniedrigung und Strafen begleiten den Aufbau. Wer nicht spurt, muß unter der Peitsche und ohne Wasser in der sengenden Hitze des chilenischen Sommers schuften. Und doch schafft Schäfer es, seine gequälten Untergebenen mit den Ergebnissen ihrer Mühen zu überzeugen. Die Kolonie wächst und gedeiht und entwickelt sich zu einem blühenden, fast autarken Wirtschaftskreislauf. Ziegel werden selbst gebrannt, Möbel geschreinert, Anbau und Viehhaltung sind ökologisch, und Hilfe von außen wird nicht mehr benötigt.
Die Jugendlichen sind in einer Gruppe nach Art der deutschen Jugendbewegung organisiert, gehen in Kluft in dem großen Areal auf Fahrt, singen bündische Lieder und verbringen Nächte am Feuer.
Als Aushängeschild der Kolonie wird früh ein Krankenhaus eröffnet, um dort die arme Bevölkerung des Umlandes kostenlos zu behandeln. Den kleinen Jungen werden im Internat Essen und Ausbildung geboten, als Preis sind viele von ihnen den Taten Schäfers ausgeliefert. Neugeborene werden ihren Müttern, die nicht viel davon verstehen, weggenommen und im Erziehungssystem der Kolonie assimiliert. Denn während die Siedler dem Aufbau verschrieben sind, hat Schäfer sein eigenes Herrschaftssystem entwickelt und damit die Kolonie in seiner Hand. Mit dem Leitungsgremium der Kolonie, der sogenannten „Herrenversammlung“, feilt er die Unterdrückung der menschlichen Sexualität zum Herrschaftsinstrument aus: In Chile herrscht er nun über drei Generationen von Menschen, für die es keine Außenwelt gibt. Alle sozialen Beziehungen unterliegen jetzt seiner Kontrolle, und jede noch so kleine menschliche Regung muß ihm in der häufig täglichen Beichte gestanden werden. Jegliches sexuelle Bedürfnis wird unterdrückt und verächtlich gemacht, die Jugendlichen auf dem Gut haben keine Ahnung von menschlicher Fortpflanzung – wer heiraten will, braucht die Erlaubnis Schäfers. Zunächst dürfen noch die „Gereiften“ – in der Colonia Dignidad ist man bis zum 40. Lebensjahr ein „Jüngling“ – heiraten, Ehepartner dürfen nur mit besonderer Erlaubnis zusammenleben. Ab 1974 sind Beziehungen dann völlig verboten und werden mit harten Strafen geahndet.
Gleichzeitig werden die Familien auseinandergetrieben und die Siedler isoliert. Kinder wachsen getrennt von ihren Eltern, und ohne ihren Vater oder ihre Mutter zu kennen, in gemeinsamen Kinderhäusern auf, elterliche Gefühle sind verboten und werden streng verfolgt (so wird eine Mutter vor der Herrenversammlung verprügelt, als ein Mitbewohner von dem Foto ihres Kindes auf dem Nachttisch erzählt – ihr anschließender Fluchtversuch wird brutal verhindert). Schäfer selbst dagegen lebt seine Homosexualität ungezügelt und gewalttätig aus und hat in der Folge nach Paul Heller „…all diejenigen in der Hand, die im Konflikt stehen, Liebe zum Führer zu hegen und Objekt seiner Begierde geworden zu sein.“[1] Sie fühlen sich mitschuldig und sind gleichzeitig keines Verrats an ihrem Führer fähig, was einen Aufstand oder einen Sturz Schäfers trotz seiner offenkundigen Verstöße unmöglich macht.
SPIEGEL: Wie kontrolliert der Sektenführer 300 Menschen? Tobias Müller: Das macht er über die Religion. Keiner darf eine Sünde begehen, man muß alles öffentlich bekennen. In letzter Zeit fanden jeden Abend von elf bis zwei Uhr morgens Versammlungen statt. Wenn man müde ist, läßt man sich leichter zu Geständnissen hinreißen. Manchmal denkt sich Schäfer auch Vorwürfe aus, beispielsweise, daß Jungen Schweinereien treiben. Oder er legt einen Bibelspruch aus. Damit fasziniert er die Zuhörer, er kann die Schrift fast auswendig. Manche vergleichen ihn mit Jesus. Das weist er zwar von sich, aber in Wahrheit hört er es gern.[2]
Gleichzeitig beschreibt Schäfer die Außenwelt als eine Gesellschaft, die von Gewalt, Drogen und Inzucht verseucht ist, was den Willen der Bewohner, sich von außen abzuschotten, unterstützt. Zudem gibt es einen eigenen Sicherheitsdienst. Die Kolonie wird durch Elektrozäune abgeriegelt, an strategisch wichtigen Punkten stehen getarnte Kameras, und entlang des Zauns verhindern Bodensensoren ein Eindringen in das Areal sowie eine Flucht aus demselben. Nur wenige Personen kennen alle Geheimanlagen, Auserwählte haben Waffen, und in einer Überwachungszentrale läuft alles zusammen.
Und noch eine Entwicklung verstrickt die Kolonie und ihre Führung in tiefe Schuld: Nach dem Putsch des chilenischen Generals Augusto Pinochet am 11. September 1973 wird sie zu einem Teil des Terrornetzes, mit dem der Pinochet-Geheimdienst DINA das Land überzieht. Die Spur von mindestens 70 Opfern der Diktatur verliert sich in dem riesigen Gelände der Siedlung, erst 2005 wird eine mutmaßliche Hinrichtungsstätte entdeckt – es finden sich aber bisher nur Teile von Autos Verschwundener sowie Waffenarsenale.[3] Was wirklich passiert ist, liegt immer noch im Dunkeln und verschwimmt mit dem Schweigen der Zeugen.
Doch erklärt dies, warum der chilenische Staat dem Treiben Schäfers zusieht. Dem Diktator Augusto Pinochet sind die Deutschen gute Freunde. Ebenso hat Schäfer auch gute Beziehungen in die deutsche Politik, sogar Franz-Josef Strauß ist einmal zu Gast und äußert sich begeistert, und noch heute sieht man damalige Grußbotschaften diverser CSU-Politiker in der Kolonie an den Wänden hängen. Die Deutsche Botschaft und das Auswärtige Amt werden mit Präsentkörben bedacht, und die Beamten halten sich von der Kolonie fern. Lediglich Amnesty International mit Klagen und Petitionen an den Bundestag sowie einzelne wenige geflohene Bewohner sorgen für Aufsehen, doch scheitern alle Aufklärungsversuche an den undurchdringlichen Zäunen der Kolonie. Wie viele Fluchtversuche scheitern, ist bis heute ungewiß.
Erst nach Pinochets Abtritt 1990 wird es langsam eng für Schäfer. 1998 muss er untertauchen, weil die chilenische Justiz gegen ihn ermittelt. Ab 1996 versucht auch die Botschaft, Zutritt zur Kolonie zu erlangen, was jedoch praktisch nicht möglich ist. 2005 wird Schäfer schließlich nach langer Flucht in Argentinien festgenommen und an Chile ausgeliefert. In mehreren Verfahren wird er zu Gefängnisstrafen verurteilt und stirbt 2010 in einem Gefängniskrankenhaus in Santiago de Chile.
Doch in der Kolonie treten nur ganz langsam Änderungen ein. Zunächst bleiben die Gefolgsleute Schäfers an der Macht und führen das alte System weitgehend fort. In der chilenischen Öffentlichkeit und nun freien Presse entsteht aber ein zunehmend bedrohliches Bild von der Siedlung, die als Staat im Staate angesehen wird. Dies rührt auch daher, daß immer wieder von der Polizei angestoßene Untersuchungen an der Unterstützung der Kolonie durch Teile der politischen Rechten und des Heeres scheitern.
Erst einige Zeit nach der Festnahme Schäfers ändert sich die Situation dramatisch. Unter Verwaltung des chilenischen Staates gestellt, öffnet sich die nun „Villa Baviera“ benannte Kolonie. Die erste Folge ist eine Emigrationswelle, viele gehen zurück in das alte Heimatland jenseits des Meeres. Die gebliebenen etwa 200 Bewohner werden im folgenden Übergangsprozeß von Psychiatern und Psychologen sowie der Botschaft begleitet. Im April 2006 veröffentlichen die Siedler ein Schuldbekenntnis. In der „Öffentlichen Erklärung an unsere Mitbürger in Chile und Deutschland“, die in der chilenischen Presse im Wortlaut abgedruckt wird, heißt es u. a.: „Wir tragen die Schuld, dass wir uns nicht gegen den despotischen Leiter erhoben haben; die Schuld, dass auf unserem Grundstück Menschen ungesetzlich festgehalten wurden, von denen einige umgebracht worden sein sollen und deren Leichen verschwunden sind…Als Mitglieder dieser Gemeinschaft von Deutschen und Chilenen wollen wir uns bemühen, Verzeihung zu erfahren und als fester Bestandteil der chilenischen Gesellschaft integriert zu werden.“ Das schwierige Kapitel der Aufarbeitung und des Verarbeitens des Erlebten, von dem der folgende Film erzählt, und das bis heute noch nicht abgeschlossen ist, beginnt.
Erst jetzt lernen J. und A. ihre anderen Geschwister kennen, dürfen sich untereinander und mit ihren Eltern als Familie fühlen. Sie beginnen ganz langsam, die verlorenen Jahre ihrer familiären Kindheit, wenn nicht nachzuholen, so doch zumindest nachzufühlen. Erstmals erhalten sie ein Bild vom Land jenseits des Zaunes, erkunden die Weiten Chiles und müssen darauf bedacht sein, von den neuen Eindrücken nicht überrollt zu werden. Als J. erstmals in das Heimatland seiner Eltern aufbricht, ist er von der Modernität überwältigt und geht auf der Münchner Autobahn wandern. Auch A.s harmlos gemeinte Frage danach, ob Hitler in Deutschland heute positiv gesehen werde, zeigt mir ihre ganze Weltfremdheit. Wir reagieren zwangsläufig wie Lehrer, die Kindern von fernen Ländern berichten…
Überhaupt wirkt die ganze Siedlung wie eine Welt aus den fünfziger Jahren. Im Gespräch lauschen wir einer Sprache, wie sie im heutigen Deutschland nicht mehr gesprochen wird, die wir nur noch aus Filmen der damaligen Zeit kennen, und erfassen ganz langsam die volle physische und psychische Dimension Schäfers einstiger Colonia Dignidad.
Im Gegensatz zu ihrem Bruder, der mit seinem Buch einen Bruch vollzog und sich von Siedlung wie Familie distanzierte, bleiben A. und J. Sie versuchen das Beste aus ihrer Situation zu machen und Verantwortung zu übernehmen. Mit fertiger Ausbildung kehren sie zurück, engagieren sich im Vorstand für die Weiterentwicklung der Gemeinschaft. Und doch verzweifeln sie häufig an den vielfältigen Hindernissen eines Lebens in Freiheit, das allzu oft vom Makel und den Schatten einer Vergangenheit überlagert wird, die immer wieder ihre Arme nach den Kindern Schäfers ausstreckt.
[1] Vgl. Heller, Paul (1993), S. 45.
[2] Vgl. http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-8757880.html à Flucht von Tobias Müller und Salo Luna
[3] Vgl. http://www.n-tv.de/panorama/Hinrichtungsstaette-entdeckt-article163421.html.
Bewegte Bilder: Den Film Deutsche Seelen – Leben nach der Colonia Dignidad kann man hier sehen.
Weitere Hintergrunde zum Film und zur Siedlung findet man hier.
… vor einigen Tagen ist Gerd Seewald, ein wegen Kindesmißbrauchs in Haft sitzender ehemaliger Führer der Colonia Dignidad, verstorben.
Weitere Informationen und Lektürehinweise findet man hier:
Klaus Schnellenkamp
Ich überlebte die Colonia Dignidad
2007, Best Nr. 33296598
Efrain Vedder
35 Jahre Gefangenschaft in der deutschen Sekte Colonia Dignidad
2007, Best Nr. 34295989
# Hier ein Bericht über das Buch.
Ulla Fröhling
Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
2012, ISBN 978-3404616602