Nichts seit dem Bestehen der Deutschen Jugendbewegung hat einen solchen Bestand und Gehalt bewiesen wie die so genannte Meißnerformel. Lange durchdacht, eilig notiert, kräftig beklatscht, heftig zerredet und dennoch nie ganz verworfen, dienen die freideutschen Maxime bis in die heutige Zeit vielen jugendbewegten Gemeinschaften noch immer als Leitmotiv. Doch was sagt diese Formel eigentlich aus? Wie ist sie entstanden und wie überstand sie die Wirren der Zeit? Diesen Fragen sind wir Hamburger auf einem unserer Gildenabende nachgegangen.
Die Meißnerformel in ganzer Länge lautet:
„Die Freideutsche Jugend will nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, in innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein.
Zur gegenseitigen Verständigung werden Freideutsche Jugendtage abgehalten. Alle gemeinsamen Veranstaltungen der Freideutschen Jugend sind alkohol- und nikotinfrei.“
Verkürzte und veränderte Textvarianten mögen der eigenen Auslegung der Zitierenden entsprechen, weichen aber vom überlieferten Wortlaut ab. Begrifflich lassen sich einige Inspirationen erkennen, die zugleich die inhaltliche Tiefe des relativ kurzen Textes erahnen lassen. Fakt ist, daß sich die jugendbewegten und freistudentischen Kreise im Vorlaufe des Jubiläums intensiv mit der Generation der Befreiungskriege auseinandergesetzt hatten. So liegt es nahe, daß auch Vertreter und Gedanken dieser Generation Einfluß auf die Ideenwelt der Meißnerfahrer, insbesondere der an der Ausformulierung Beteiligten, ausübten.
Maßgeblich ist hier der Philosoph Johann Gottlieb Fichte zu nennen. Diese begründete Annahme wurde schon anläßlich der Gedenkfeier zum 90. Jahrestage des Meißnerfestes auf Burg Ludwigstein ausgesprochen und im gleichen Jahr in den Ludwigsteiner Blättern Nr. 221 festgehalten. Insbesondere Fichtes Gedanken zum „wahrhaftigen Leben“[1] und seine rechtlichen Überlegungen zur Legitimation eines „wahrhaften Krieges“[2] lassen sich in der späteren Ausformulierung erahnen.
In Fichtes Religionsphilosophie setzt er den „wahrhaftigen“ und „vollendeten“ Mensch gleich, indem er formuliert:
„Der wahrhaftige und vollendete Mensch soll durchaus in sich selber klar seyn: denn die allseitige und durchgeführte Klarheit gehört zum Bilde und Abdrucke Gottes.“[3]
Vom ebenfalls in freistudentischen Kreisen verehrten Friedrich Schiller könnte der Begriff der „inneren Freiheit“ entlehnt sein. Schiller schrieb 1788 an seinen Freund Theodor Körner, dem späteren Freischardichter:
„Dabei genoß ich einer unumschränkten inneren Freiheit meines Wesens und der höchsten Zwanglosigkeit im äußerlichen Umgange — und Du weißt, wie wohl einem bei Menschen wird, denen die Freiheit des anderen heilig ist.“[4]
Für Schiller selbst, der in seinem Leben viel Unfreiheit erfuhr, galt die innere Freiheit des Menschen als wesentlicher Bestandteil seines Lebens. So schrieb er:
„Es gibt in dem Menschen keine andere Macht als seinen Willen, und nur, was den Menschen aufhebt, der Tod und jeder Raub des Bewußtseins, kann die innere Freiheit aufheben.“
Fichte und Schiller mögen hier nur stellvertretend für einen wahren Gedankenkanon stehen, mit dem sich die freideutsche Generation befaßte. Doch wer übte neben diesen Vordenkern direkten Einfluß auf die junge Generation aus?
Es liegt nahe, daß die auf dem Fest aufgetretenen Redner mit ihren Ideen im Vorhinein auch die endgültige Formulierung beeinflußten. Für die oft vorgebrachte Annahme, daß der Reformpädagoge Gustav Wyneken direkt an der Ausformulierung mitgewirkt hatte, fehlt jeder stichhaltige Beleg. Ganz im Gegenteil zeigte sich Wyneken von der Ausformulierung nur mäßig begeistert.[5] Schon im November 1913 bestätigte er die eigenständige Entstehung der Meißnerformel indem er schreibt: „Aber jene Resolution war das Werk weniger, das Werk der Führer, sehr ernst zu nehmender, denkender und entschlossener Köpfe aus der Mitte der Jugend selbst.“[6]
Statt seiner scheint der Neukantianer Paul Natorp als weiterer Ideengeber in Frage zu kommen. Dieser schlug in Vorbereitung des Festes den folgenden Wortlaut vor, welcher einige Parallelen zur späteren Fassung zeigt:
„Sie will: leben aus eigener Verantwortung, will sie selbst sein; sein in des Wortes erfülltem, gedrängtem Sinn: sein aus eigener innerer Wahrheit, mit Austilgung alles Scheins.“[7]
Auch zur inneren Wahrhaftigkeit hatte sich Natorp seinerzeit geäußert:
„Daraus folgt: daß die innere Wahrhaftigkeit, die Wahrheit „gegen sich selbst“, die Aufrichtigkeit des „Herzens“ der äußeren Aufrichtigkeit vorgeht.“[8]
Doch auch zum Einfluß der Neukantianer gibt es widersprüchliche Meinungen.[9] Uns allen wird wohl auch zukünftig aufgrund der spontanen Ausformulierung eine zweifelsfreie Kenntnis der Entstehungsgeschichte der Formel verwehrt bleiben.
Es ist also anzunehmen, daß die drei als Verfasser der Formel geltenden Freischärler[10] und jungen Mediziner Knud Ahlborn[11], Erwin von Hattingberg[12] und Gustav Franke genau mit jenem geistigen Gepäck unterschiedlicher Ideen die überlieferten Worte verfaßten. Dies geschah gerade rechtzeitig auf der Wanderung zwischen der Burgruine Hanstein und dem Hohen Meißner. Bemerkenswert für das anstehende Jubiläum ist die Tatsache, daß die zwei erstgenannten Personen später führend in der Deutschen Gildenschaft und deren Vorläufern tätig wurden – jener jugendbewegten Studentenverbindung also, die von einer der „offiziellen“ Feierlichkeiten im Jahre 2013 vorsorglich ausgeladen wurde…
Von Anfang an hatte die freideutsche Idee Schatten und Brüche zu ertragen. Ob Ideengeber oder nicht, Natorp und mit ihm die Marburger Schule wandten sich von der verkündeten Meißnerformel ab und waren maßgeblich daran beteiligt, schon im März 1914 die „Marburger Formel“ als Ersatz anzubieten. In dieser heißt es bürokratisch anmutend:
“Die Freideutsche Jugend ist eine Gemeinschaft von Jugendbünden, deren gemeinsame Grundlage es ist, von der Jugend geschaffen und getragen zu sein, und deren gemeinsames Ziel es ist, die Vermittlung der von den Älteren erworbenen und überlieferten Werte zu ergänzen durch eine Entwicklung der eigenen Kräfte unter eigener Verantwortlichkeit, mit innerer Wahrhaftigkeit. Jede Parteinahme in wirtschaftlicher, konfessioneller oder politischer Beziehung lehnt sie ab. Die den einzelnen Verbänden eigentümlichen Wege und Ziele werden durch den Zusammenschluß nicht berührt. In diesem, den Jugendbünden gemeinsamen Bestreben nach Selbsterziehung sucht sich die Freideutsche Jugend durch Veranstaltung von Vertreter- und Jugendtagen, in gemeinsamer Arbeit und Feier zu erhalten und zu fördern.“ [13]
Und dennoch: allen Alternativen, Kritiken[14] und auch dem Ende der Freideutschen Jugend zum Trotz behielt und behält die Meißnerformel ihre Bedeutung als ein Bekenntnis der jugendbewegten Erben verschiedenster Ausrichtung. Gewiß, Freideutsche Jugendtage werden längst nicht mehr abgehalten, Alkohol- und Nikotinfreiheit sind keine Selbstverständlichkeit mehr, aber nach innerer Freiheit und Wahrhaftigkeit strebt ein Großteil der aktiven Jugendbewegung noch heute. Dieses Streben ist wohl die schönste Grußbotschaft in die Vergangenheit und das wertvollste Versprechen an die Zukunft.
[1] In: Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke, Berlin 1845, darin heißt es u.a.: „das Element, der Aether, die substantielle Form des wahrhaftigen Lebens, ist der Gedanke.“
[2] In: Johann Gottlieb Fichte, Über den Begriff des wahrhaften Krieges, drei Vorlesungen, Tübingen 1815, darin heißt u.a.: „Ist nur das Leben frei, wahrhaftig, leer anderer Antriebe, so wird es von selbst Mittel des Sittlichen, und stellt sich also, gleichwie die sittliche Aufgabe gleichfalls durch sich selbst sich stellt, beides ohne alles weitere Zuthun der Freiheit; es macht sich selbst. Die Freiheit aber muß durch Freiheit selbst errungen werden…“.
[3] In: Fichtes Werke, Zur Religionsphilosophie, Neuauflage von Immanuel Hermann von Fichte, Berlin 1971, S. 473
[4] Zitiert aus Schillers Briefwechsel mit Körner, Berlin 1847, Seite 364.
[5] In: Die Tat, November 1913: „Es besteht die Gefahr, daß jene Jugend sich zu billig hergibt. Durch jene Resolution ist es verhindert worden, wenigstens für die Organisation und für den Augenblick.“.
[6] Ebenso in: Die Tat, November 1913.
[7] Vergleiche: Christian Niemeyer, Klassiker der Sozialpädagogik, 3. Auflage, Weinheim/München 2010, S. 106.
[8] u.a. in: Sozialpädagogik: Theorie der Willenserziehung auf der Grundlage der Gemeinschaft, 1899/1904.
[9] Vergleiche: Sigrid Bias-Engels, Zwischen Wandervogel und Wissenschaft, Köln 1988, Seite 148.
[10] Alle drei waren Mitglieder der Deutschen Akademischen Freischar, vgl. Blätter der Deutschen Gildenschaft, 18. Jg. 1976, Heft 1, S.2.
[11] Knud Ahlborn war führend am Zusammenschluß der Deutschen Akademischen Freischar mit der Deutschen Gildenschaft beteiligt, vgl. etwa Bundesnachrichtenblatt der Deutschen Gildenschaft 5, 1934. Zudem ist er nach dem Zweiten Weltkrieg Ehrenmitglied der Hansischen Gilde in Hamburg geworden.
[12] Erwin von Hattingberg gehörte zu den Gründern der Deutschen Akademischen Gildenschaft, vgl. Anm. 11.
[13] In: Die Marburger Tagung der Freideutschen Jugend, Hamburg 1914, S. 28
[14] Für Dr. Edmund Neuendorff, den damaligen Bundesführer des Wandervogel e.V., war sie beispielsweise „sentimentaler Kitsch“, vergleiche: Alexander Priebe: Vom Schulturnen zum Schulsport, Bad Heilbrunn 2007, Seite 32.