von Thies
„Nauru ist eine dieser kleinen Inseln Ozeaniens, deren Existenz auf einer Weltkarte lediglich durch einen Namen im Blau des Ozeans angezeigt wird. Ein Name am äußersten Kartenrand. Nauru: Das sind 21 Quadratkilometer Felsen mitten im Pazifischen Ozean.“
Mit diesen Worten leitet der französische Autor Luc Folliet sein Buch mit dem Titel „Nauru, die verwüstete Insel – Wie der Kapitalismus das reichste Land der Erde zerstörte“ ein. Nauru, der Name war mir bis dato unbekannt, wahrscheinlich genauso unbekannt wie jenen, die jetzt diesen Artikel lesen und die Abläufe für den Stoff von Märchen halten, genau so wie ich es anfangs tat. Denn die Geschichte der Insel Nauru mutet fabelhaft an, es ist ein „philosophisches Märchen“, wie es „Le Canard enchaîné“ formuliert hat.
Die Geschichte Naurus ist bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs geprägt durch die Isolation der kleinen Insel. Als Spielball der Kolonialmächte unterscheidet sich das Schicksal kaum von dem anderer kleiner Inseln im Pazifik. Im Jahre 1899 kommt es zum Schicksalsschlag, der die Zukunft der Nauruaner völlig verändern soll. Auf der winzigen Insel werden riesige Phosphatvorkommen gefunden. Ab 1907 beginnt der Abbau der Ressource durch die Briten, die einheimische Bevölkerung profitiert kaum. Zwei Weltkriege unterbrechen den Rohstoffstrom von Ozeanien nach Europa, doch schon bald nach Ende des Krieges sichert sich erneut eine Schutzmacht die wertvollen Vorkommen: Ab 1945 fördert Australien das Phosphat, mit einer kleinen Abgabe an das nauruische Volk. Doch dessen Bewußtsein verändert sich, und der Ruf nach mehr Selbstbestimmung findet über die Vereinten Nationen immer mehr Gehör. Im Jahr 1970 geht der Phosphatabbau komplett in nauruische Hand über.
Was nun eintritt, hebt die traditionelle Gesellschaft aus den Angeln. Ein plötzlicher Geldregen überschwemmt die Insel. Eine nie zuvor geahnte Geldmenge fließt in die Kassen des nauruischen Volkes, das zu diesem Zeitpunkt 4000 Menschen zählt. Mit der Verstaatlichung der Phosphatindustrie endet die Zeit des Arbeitens für die Nauruaner. Folliet beschreibt wie ein „Nauruanischer Kollektivismus“ um sich greift, wie ein völlig ausufernder Staat die Früchte seiner Bodenschätze begeistert an sein Volk verschenkt. Die beglückte Bevölkerung stürzt sich in den Segen des Luxus. Putzen, kochen oder gar feste Arbeitszeiten gehören der Vergangenheit an, jegliche körperliche Arbeit wird von Ausländern übernommen. Die Nauruaner arbeiten in mehr oder weniger wichtigen Staatsfunktionen. Geld spielt plötzlich keine Rolle mehr. Eine Gesellschaft, die bis vor kurzem aus Sammlern (Kokosnüsse) und Jägern (Fisch) bestand, ernährt sich nun von Tiefkühlpizza.
Schon lange war klar, daß die Phosphatreserven ungefähr bis zum Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts reichen würden. Ein Teil der großen Geldmengen sollte also investiert werden, um den Lebensstandard dauerhaft zu bewahren, doch sei es, weil das Geld in größenwahnsinnige Prestigeobjekte gesteckt wurde oder weil „Finanzhaie“ die unerfahrenen Nauruaner in unglückliche Investitionen lockten, das Geld aus den Investition war gegen Ende der 90er Jahre nicht mehr existent, die Phosphatkräne schon länger arbeitslos, der Geldstrom aus dem Ausland versiegt.
Doch was passierte mit den Nauruanern? Jahre der Dekadenz hatten nicht nur die Körper in ungeahntem Maß anschwellen lassen, sondern auch jeglichen Bodenkontakt eliminiert.
Ausschnitte aus einem Gespräch mit der Leiterin des Büros für Frauenangelegenheiten:
„Als es der Insel gutging, sprachen die Leute direkt in den Regierungsbüros vor und verlangten Geld. Und meistens gab man ihnen welches.“
„Während der letzten 20 Jahre gab es einen echten Bruch in der Weitergabe von Kultur und auch von Wissen, und das bei ganz einfachen Dingen. Die jungen Frauen von heute vergessen beispielsweise, ihre Babys zu füttern – wenn sie das überhaupt können, denn manchmal haben sie nicht genug zu essen.“
„In den achtziger Jahren kochten die Eltern nicht, sondern holten sich mehrmals am Tag Essen beim Chinesen. Jede Woche schickte die Regierung eine Putzfrau zu den Leuten, um die Häuser sauber zu halten. Für die Mädchen von damals, die inzwischen erwachsen sind, ist es sehr schwierig, heute mit der Hausarbeit anzufangen.“
„Wir haben unsere Kultur und unser Wissen total vernachlässigt.“
„Wir schicken unsere Frauen ins Ausland, damit sie fegen lernen.“
Eine andere Frau erzählt weiter:
„Sämtliche Traditionen, die abendlichen Feiern mit einheimischen Tänzen – alles ist weg! Heute wissen die Frauen nicht mehr, wie die typischen Kleidungsstücke der Insel oder auch nur einfache Perlenketten hergestellt werden. Das Phostphatgeld hat unser Leben und unsere Kultur verändert. Warum hätten die Leute zusammenkommen sollen, um traditionelle Feste vorzubereiten, wenn es doch genügte, in eine der unzähligen Videotheken zu gehen und sich einen Film auszuleihen?“
Wer Jared Diamonds Buch Kollaps kennt oder auch nur das Ende der Osterinsel, muß unwillkürlich an die Parallelen denken. Eine Gesellschaft richtet sich selbst zugrunde und stürzt aus den höchsten Höhen in den absoluten Abgrund.
Doch genauso wie Diamond viele der Probleme der Osterinsel in der heutigen Gesellschaft sieht, so werden auch im Mikrokosmos der Nauruaner viele Krankheiten aufgedeckt, deren Symptome hier längst etabliert sind. Kein westliches Land, das nicht mit den Folgen von Fettleibigkeit und Diabetes kämpft, kein westliches Land, das nicht traditionellen Kulturverlust und die Loslösung vom überlieferten Eß- und Konsumverhalten beklagt. In Nauru ernährte sich die Bevölkerung jahrhundertelang von Fisch, aber wer konnte Ende der 90er noch fischen, geschweige denn den Fisch zubereiten? Welches Land der Erde schafft es heute, nachhaltig zu wirtschaften und den Gewinn von wenigen Jahren für die nächste Generation zu bewahren?
Hätten jugendbewegte Menschen anders agiert? Die jugendbewegte Geschichte läßt diese Vermutung durchaus zu, aber auch andere Projekte geben Hoffnung. Eins steht jedoch fest: Kaum ein Buch hinterläßt ein eindeutigeres Plädoyer für die Notwendigkeit alternativer Gedanken und Wege – und alternativ soll nicht nur anders, sondern besser sein.
Luc Foliet: Nauru, die verwüstete Insel. Wie der Kapitalismus das reichste Land der Erde zerstörte. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2011, ISBN 978-3-8031-2654-2