Eine kurze Geschichte, wie der Meißner zu Namen und Titel kam
von bjo:rn
Vielfach liest man die Mär von der namentlichen Erhöhung des Meißners infolge der Hochstimmung zum ersten Freideutschen Jugendtag.[1] Diesem wurde schon wohl plaziert widersprochen[2], denn schließlich galt der „Hohe Meißner“ unter dieser Bezeichnung weit vor der Ausrufung der Freideutschen als beliebtes Wanderziel. In Wandervogelheften findet man diese Bezeichnung vor 1913 ebenso wie in der SPD-nahen Zeitung „Vorwärts“.[3]
Selbst Knud Ahlborn, einer der Initiatoren des freideutschen Wiegenfestes, irrt, wenn er den Meißner beiläufig als „einen bis dahin unbekannten […] Basaltberg in der Nähe Kassels“[4] kleinschreibt. Der Meißner hat eine lange und zugleich äußerst mythenreiche Vergangenheit, auf die an dieser Stelle verkürzt eingegangen werden soll.
Seit jeher erzählt man sich, daß auf dem oft vernebelten Berg einst Frau Holle ihre Betten ausschüttelte. So laden keine Geringeren als die Gebrüder Grimm alle Neugierigen zu einer Entdeckungsreise auf den Meißner ein: „Wer aber die Frau Holle recht kennen lernen will, der muß zum Weißner wandern.“[5] Wer sich schon einmal im Nebel des Meißners verlor, wird diese mythenhafte Suche nicht ganz abwegig finden. Der Volksmund und die Märchenbrüder haben auch hierfür eine Erklärung parat: Frau Holles Kaminschwaden nebeln den Berg bis heute regelmäßig ein. Und so scheint es fast, daß die Entscheidung für den Meißner über Jahrhunderte hinweg ähnlich begründbar ist. Denn wenn der Freischärler Schneehagen für den Hohen Meißner mit folgenden Worten warb, so könnten ähnliche Überlegungen auch Frau Holle bewogen haben: „Schöne Lage, grosser Festplatz, Gelegenheit für Feuer, kein grosser Zulauf von Fremden.“[6] Mit dieser Abgeschiedenheit war es jedoch spätestens nach der Schneeschmelze vorbei, denn „[…] zur Sommersonnenwende aber wallte Alt und Jung zum hohen Weissner, dort der Göttin Freya (Frau Holle) zu huldigen“[7].Diese Huldigungen reichen weit zurück und lassen sich durch Münzen und andere archäologische Funde im sogenannten Frau-Holle-Teich nahe dem Altarstein, einem großen Basaltstein an der nördlichen Seite des Berges, belegen.
Und wenn wir Frau Holle die weiße Bergkuppe verdanken, so verdankt man diesem meteorologischen Umstand womöglich den älteren und mundartlichen Namen „Weißner“ oder auch „Wissener“. Da sich Holla, Hertha, Holde – wie man sie auch jeweils nannte – Überlieferungen nach auf ihrem Teich in weißen Gewändern zeigte und die vorbeifließende Werra einst ähnlich klingende Namen wie Wisera, Wisora, Wisara trug, sind gewiß auch andere Herleitungen des Namens möglich, gleichwohl nicht an dieser Stelle.
Schon in dem Reisetagebuch Itinerarium Germaniae novantiquae aus dem Jahr 1632 wird von dem „vberauß Hohen Berge Weißner / oder Meissener“ berichtet. Etwa zeitgleich stellte Landgraf Hermann IV. in seiner Hessischen Cosmographie fest, daß der Meißner für „den allerhöchsten und größten Berg im ganzen Lande gehalten wird“[8].Selbst Alexander von Humboldt konnte sich 1799 seiner erinnern, als er ihn in seinen südamerikanischen Reisetagebüchern zum Vergleich heranzog.[9] Und so spricht gegen die angebliche Unbekanntheit des Meißners auch seine frühzeitige und bis heute reichende Betitelung als „König der Hessischen Berge“.[10] Die Bezeichnung „Hoher Meißner“ läßt sich in zahlreichen Werken des 19. Jahrhunderts belegen, woraus sich eine Namensschöpfung des Wandervogels und der Freideutschen ausschließt.[11] Gleichwohl ist davon auszugehen, daß der Wandervogel diese Begrifflichkeit übernahm und der Doppelname mit dem überregionalen Wachsen des Meißnermythos allgemein üblich wurde. Im Mai 1907 berichtete Wilhelm Jansen von einer Meißnerwanderung: „[…] Ich schleppte die ,Mannen der Ebene` weidlich bergauf, bergab, damit sie merkten, daß sie in Hessen waren. Am dritten Tag übergab ich sie auf dem hohen Meißner an Heberer und einige Casseler Wandervögel, die sie gen Cassel führten und dort der bekannten Gastfreundschaft der Casseler Wandervögel überantworteten […]“[12]. Ein Jahr darauf lud man die regionalen Wandervögel zu einem Kundenkonvent und wußte über diesen jugendbewegten „Polterabend“[13] zu berichten: „[…] Der auf dem Hohen Meißner veranstaltete K.-K.[14] hatte eine großartige Beteiligung: 80 Mann[…]“[15]. Niemand konnte ahnen, daß es ihnen einige Jahre später Tausende nachmachen würden.
Doch selbst das Völkerschlachtgedenken auf dem Meißner war kein Novum. Schon im Oktober 1814, also gerade ein Jahr nach der Völkerschlacht, zog man im Gedenken hinauf, und „auf allen Bergen und Anhöhen in der umliegenden Gegend, so wie besonders auf dem Meißner, sah man Freudenfeuer.“[16] Ein Beobachter faßte seine Eindrücke in folgenden Zeilen zusammen:
„[…]Vom Meißner bis zum Melibokus hin,
Und hier im West und Süden — o! wer konnte
Sie zählen, diese Fackeln, die Ein Sinn
Vom Rheine, bis wo sie die Ostsee bindet.
Zum Dank und Siegesopfer angezündet.[…]“[17]
Über hundert Jahre später gab es keinen Grund für Freudenfeuer. Gustav Wynekens Wünsche nach friedvollen Jahren sollten unerfüllt bleiben. Des „Krieges Horden“[18] durchtobten Europa und die ganze Welt. Auch unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg war niemandem nach Fackelschein zumute. Der Rauch der zerbombten Städte war gerade erst verzogen – nur der Meißner war wie immer vom Nebel verhangen. In der verzweifelten Suche nach neuer Identität wurde der Berg sogar als Ort einer neuen Hauptstadt namens „Hohenmeißner“ für ein geeintes Deutschland ins Gerede gebracht.[19] Diese Idee zerbrach jedoch nicht nur an den Realitäten der großen Politik – zum Glück. So blieb der geadelte Berg dem Nebel, Frau Holle und der Jugendbewegung erhalten. Sonst wären solch faustischen Zeilen aus dem Nachlaß von Karl Stumpf weit weniger amüsant zu lesen, wenn er den „jugendbewegten Wandervögeln“ folgende Verse in den Mund legt:
„[…] O welch Geschrei und Sterbeklagen!
Ängstlich Flügerflatterschlagen!
Welch ein Weinen, welch ein Schauern
in grauer Städte Bürgermauern!
Laßt durch der Lebensauen Grün
uns zum Hohen Meissner ziehn! […]“[20]
(Artikel zuerst erschienen in der Zeitschrift Idee und Bewegung, Nr. 94, Juni 2011)
[1] u.a. Hans Ulrich Thamer, Das Meißner-Fest der Freideutschen Jugend 1913 als Erinnerungsort der deutschen Jugendbewegung, im Jahrbuch des Archivs der dt. Jugendbewegung, NF 5/2008, S. 170
[2] Winfried Mogge, Jürgen Reulecke: Hoher Meißner 1913, Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung. Bd 5. Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1988
[3] Ausgabe vom 4. Juli 1911, laut Manfred Herzer, in Sabine Weißler (Hrsg.) Fokus Wandervogel, Marburg 2001, Seite 92
[4] Knud Ahlborn, zitiert aus Ziemer/Wolf: Wandervogel und Freideutsche Jugend, Bad Godesberg 1961, Seite 441
[5] Gebrüder Grimm, zitiert aus Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen, Cassel 1854, Seite 15
[6] Christian Schneehagen, protokolliert im Bericht über die Besprechung einer Jahrhundertfeier aller lebensreformerischen Verbände, Jena 1913, unter TOP 3 – Ort des Festes
[8]August Straub, Nordhessen: Landschaft, Geschichte, Kultur, Kunst, Wirtschaft, Band 1, 1969, Seite 155
[9] Alexander von Humboldt, Reise durch Venezuela: Auswahl aus den amerikanischen Reisetagebüchern, Band 12, herausgegeben von Margot Faak, Berlin 2000, Seiten 224, 425 und 480
[10] u.a. David August von Apell, Cassel in historischer und topographischer Hinsicht, Marburg 1805, Seite 108
[11] u.a. Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände, Band 15, Teil 2, Brockhaus, Leipzig 1855, Seite 174; Grundzüge der Erd- Völker- und Staatenkunde: Ein Leitfaden für höhere Schulen und den Selbstunterricht, Bände 1-2, Berlin 1837, Seite 529; Deutschland, oder Briefe eines in Deutschland reisenden Deutschen, Band 4, Stuttgart 1828, Seite 334
[13] Artikel „Der Polterabend des Meißner K.-K. im Bundesblatt des Altwandervogels, Der Wandervogel, November 1908, Seite 173
[18]Auszug aus der Rede von Gustav Wyneken am 12. Oktober 1913 auf dem Hohen Meißner: „[…] Wenn ich die leuchtenden Täler unseres Vaterlandes hier vor unseren Füßen ausgebreitet sehe, so kann ich nicht anders als wünschen: Möge nie der Tag erscheinen, wo des Krieges Horden sie durchtoben. Und möge auch nie der Tag erscheinen, wo wir gezwungen sind, den Krieg in die Täler eines fremden Volkes zu tragen […]“