von der Hamburger Gilde Gorch Fock
Wichtige und gern zitierte Quellen, die uns Nachgeborenen Kenntnisse über das Meißnertreffen von 1913 vermitteln, sind zweifelsohne die während der Veranstaltung gehaltenen Reden – ein Grund, diese genauer, d.h. in wörtlicher Überlieferung, unter die Lupe zu nehmen.
Auch quält alle gedanklich mit der Vorbereitung des Festes zur hundertsten Wiederkehr Befaßten natürlich bereits die Frage: Wen können wir bitten, 2013 anläßlich dieses großen Ereignisses zur versammelten bündischen Gemeinschaft zu sprechen? Vielleicht kann man sich durch einen Blick auf die Redner von 1913 Anregungen holen. Aber sollen da nicht lauter furchtbar alte Herren zur Jugend gesprochen haben? Wollen wir das wieder so haben?
Ein Blick auf die Rednerschar beim 1. Freideutschen Jugendtag läßt dann doch etwas erstaunen: Der „Senior“ des Treffens, dem man die Schlußworte am Sonntagmorgen zugedacht hatte, der Dichter Ferdinand Avenarius, Gründer der Zeitschrift Der Kunstwart, engagiert im Landschaftsschutz, der Deutschen Gartenstadtgesellschaft und im Deutschen Werkbund und als solcher der Jugendbewegung offensichtlich geistig nahestehend, war immerhin 54 Jahre alt, während der „altehrwürdige“ Gustav Wyneken mit dem Ziegenbart schlappe 38 Lenze zählte!
Überhaupt, wen hatte man sich da herangeholt? Wyneken, der sicherlich als charismatischer Redner brillieren konnte, sich auf menschlicher Ebene jedoch nicht allenthalben Freunde machte, hatte nach heftigen Zerwürfnissen mit verschiedenen pädagogischen Mitstreitern 1910 von seiner selbstgegründeten Freien Schulgemeinde Wickersdorf scheiden müssen, da das Ministerium ihn wegen einiger Skandale aus dem Dienst entlassen hatte. Ein anderer, Pfarrer Gottfried Traub, war 1912 wegen schriftlicher und mündlicher zu den Dogmen der protestantischen Kirche im Widerspruch stehender Äußerungen ebenfalls seines Amtes enthoben worden. Immerhin lief seine politische Karriere 1913 als Abgeordneter für die linksliberale Deutsche Fortschrittspartei gut an (Einige Jahre später wurde er Mitbegründer der völlig anders ausgerichteten Deutschnationalen Volkspartei!). Ein illustres Häuflein zum Teil gescheiterter Existenzen, scheint einem, zumindest Querdenker – anders hätte es wohl auch nicht gepaßt.
Knud Ahlborn, Bundesführer der Deutschen Akademischen Freischar und Unterzeichner des ersten Meißnertreffenaufrufs, im „normalen“ Leben Arzt, später Gründer des – heute noch existierenden – Freideutschen Lagers Klappholttal auf Sylt und an diversen Umweltinitiativen beteiligt, nimmt sich daneben geradezu bürgerlich aus.
So fallen auch die einleitenden Worte seines Bundesbruders Bruno Lemke bei der Zusammenkunft auf der Ruine Hanstein am Vorabend des eigentlichen Treffens zum Teil eher brav aus: Die Jugend überlasse die Politik Berufeneren, also den Erwachsenen; Erziehungsangebote verschiedener Institutionen wie Schule oder Kirche wolle man keineswegs ersetzen, sondern lediglich ergänzen; dies allerdings durch die den Bünden eigene Selbsterziehung, für die zumindest der Wandervogel schon eine jugendgemäße Form: die Fahrt, gefunden hätte.
„Aber wer erzieht denn? Wohl einer, der es besonders kann, oder es besonders gelernt hat? Nein. Alle erziehen. Wen? Sich selber. Und warum nicht jeder für sich, warum tun sie sich zusammen? Weil es im Wesen der Erziehung liegt, daß sie sich in der Gemeinschaft entfaltet, daß sie Gemeinschaften begründet. Wohl kann sich jeder im stillen Kämmerlein belehren, unterrichten; aber um sich zu erziehen, muß er sich mit andern vertragen, bekämpfen und wieder vereinen. Daher Gemeinschaftserziehung.“ (Knud Ahlborn)
Die Jugend als Träger der Kultur eines Volkes müsse sich diese aneignen, indem sie zum bewährten Ererbten etwas eigenes Neues hinzufüge.
Interessant ist, daß bestimmte Themen in allen Reden wieder auftauchen und die Grundgedanken, von jedem anders formuliert, sich gleichen:
Man wirft einen Blick zurück in die deutsche Geschichte – was bei einer Gedenkfeier zur Wiederkehr der Völkerschlacht nicht ausnehmend verwundert – und stellt fest, daß die damalige Jugend in einem gemeinsamen Ziel, der Befreiung von der napoleonischen Herrschaft, vereint war. In der eigenen Zeit (1913) nimmt man hingegen eine große Zersplitterung der unterschiedlichsten Parteien und Richtungen im ganzen Volk, in der Jugend und auch innerhalb der Bünde wahr. Es wird appelliert, über die gegensätzlichen Anschauungen hinweg Einigkeit zu wahren.
„Wir sehen sie [die Jugend] zersplittert nach Alter und Rang, nach Klasse und Geschlecht, nach Vereinen, die, statt zu vereinen, sondern, unter dem Einfluß von Parteihader und Konfessionsstreit. Und doch ist ein lebhaftes Fühlen in ihr, als ob sie von Grund aus eins sein müßte, – nein, auch eins s e i , wie sehr sie sich auch in getrennten Lagern gegenübersteht.“ (Bruno Lemke)
„Des Trennenden und Spaltenden, des Auseinanderreißenden ist genug in unserem staatlichen und gesellschaftlichen Leben. Es muß wieder ein gemeinschaftlicher Sinn erwachsen, daß wir in erster Linie überhaupt danach fragen, ob die Menschen anständige Leute sind.“ (Gottfried Traub)
Die Unterschiedlichkeit wird dabei nicht als grundsätzliches Problem, sondern durchaus als Reichtum der Vielfalt wahrgenommen. So meint Avenarius, der ein humoriges Bild von sich heftig streitenden großen Geistern der Geschichte malt, hätten diese am Freitag abend auf dem Hanstein getagt:
„ Es bleibt dabei, daß sie trotzdem alle miteinander unsere Führer sind: von jedem nimmt eben jeder von uns, was ihn überzeugt, das heißt: was in ihm selber von dem lebendig wird, was der andere gesagt und getan hat. Das ist ja schön, das ist fruchtbar, daß so viele verschiedene ehrliche Gedanken da sind; versagt der eine, hilft der andere vielleicht, das zerreißt uns nicht, nein: es macht uns reich.“
Allenthalben wird auch betont, daß die Jugend den ihr zugesprochenen Schonraum nutzen solle, um erst zu reifen, bevor sie sich auf eine Richtung festlege.
„Und das ist es, weswegen wir für unsere Jugend keine voreiligen Bindungen wollen und weshalb wir es für eine Verschwendung heiligster Kraft an zu geringe Aufgaben halten würden, wenn sich die Jugend jetzt, statt sich dem großen allgemeinen Kampfe des Lichtes mit der Finsternis zu weihen, auf einzelne Sonderbestrebungen festlegen wollte.“ (Gustav Wyneken)
Dies hier angesprochene „Höhere“ besteht im Streben nach Wahrhaftigkeit, dem Leben als „ganzer Mann und ganze Frau“ (Knud Ahlborn) sowie dem Kampf als „Krieger des Lichts“ (Gustav Wyneken, hier Hermann Popert zitierend).
Die meisten Redner sehen das Ziel noch darin, die den Freideutschen eigenen Ideale, auch das Streben nach dem Einfachen und Echten, welches mehrfach hervorgehoben wird, zuerst ins eigene Volks hineinzutragen zu dessen Nutzen.
„Diese Lebensreform, die auch schon natürlich geworden ist, dieist zwischen den freideutschen Bünden und Vereinen etwas Gemeinsames, das euch und uns alle miteinander als einen muntern Sauerteig ins deutsche Volk setzt.“ (Ferdinand Avenarius)
Einzig Gustav Wyneken, der gleich zu Beginn seiner Rede betont, er sei bekanntermaßen jemand, dessen „Kulturwille nicht halt macht an den Grenzen der Staaten, der Sprachen und der Rassen“, erhofft sich gar einen „Krieg [...] für den Geist“, der „zugleich die ganze Menschheit weiterführt aus dem Dunklen ins Helle“, denn „[v]or die Fragen und Aufgaben unseres öffentlichen Lebens, vor die wir uns gestellt sehen, sind heute alle Völker gestellt.“
Die Jugendlichen sollten nicht billigen Phrasen zujubeln, sondern „von der uns anerzogenen selbstverständlichen Vaterlandsliebe einmal Abstand“ gewinnen, um sie sich wirklich zu „erarbeiten“.
Erhellend und irgendwie beruhigend – und zugleich beunruhigend! – ist zu erkennen, daß man sich damals bereits mit sehr ähnlichen Gedanken herumschlug, wie wir dies heute tun. Am deutlichsten wird dies wohl an folgendem Satz, den Knud Ahlborn zu Beginn seiner Feuerrede in bezug auf Kritiker einiger Worte aus dem Aufruf zum Fest äußert:
„Und andere benutzten das Halbdunkel, das während der Vorbereitung über dem ersten Freideutschen Jugendtage lag, um durch unwahre Veröffentlichungen auf Kosten unseres guten Rufes für ihre Partei oder ihre Person Vorteile zu gewinnen. Mit geheimer Besorgnis erfüllte uns das Treiben jener Dunkelmänner. Einen Augenblick schien es sogar, als könnten sie Verwirrung und Fanatismus selbst in die Reihen der deutschen Jugend tragen. Aber erfreulicherweise ist ihr Anschlag, ihr Versuch, uns in eine Partei hineinzudrängen, zuschanden geworden.“
Auf jeden Fall stellen wir heutigen Jugendbewegten uns geistig in eine gute Tradition, wenn wir, was ursprünglich so anmaßend klang und sich doch in kürzester Zeit als kein Stück übertrieben erwies, formulieren:
„Am Enno-Narten-Bau zu bauen heißt, an der Zukunft zu bauen. Der Zukunft der Burg, der Zukunft der Jugendbewegung und der Zukunft der menschlichen Kultur. Das ist der Beitrag des Ludwigsteins zum Hohen Meißner 2013.“
Die Festreden sind nachzulesen bei:
Mittelstraß, Gustav (Hg.): Freideutscher Jugendtag 1913. Reden von Bruno Lemke, Gottfried Traub, Knud Ahlborn, Gustav Wyneken, Ferdinand Avenarius. Hamburg, 1919.
Sowie als Nachdruck in: Mogge, Winfried / Jürgen Reulecke: Hoher Meißner 1913 – Der Erste Freideutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern (= Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung. Bd. 5). Köln, 1988.
Bilder: Rede Gustav Wyneken, Oktober 1913; Gottfried Traub; Gustav Wyneken; Ferdinand Avenarius