von der Hamburger Gilde Gorch Fock
Anfang Oktober 1913 und damit gerade noch rechtzeitig zum Meißnerfest erschien die 169seitige Festschrift unter dem Titel „Freideutsche Jugend – Zur Jahrhundertfeier auf dem Hohen Meißner 1913“. Daß diese Schrift trotz Zeitknappheit überhaupt pünktlich erscheinen konnte, ist wohl maßgeblich dem erfahrenen Verleger Eugen Diederichs zu verdanken. Er und die verantwortlichen jungen „Freischärler“ und Mitglieder des Bundes Deutscher Wanderer Arthur Kracke und Christian Schneehagen baten nicht ungehört um Mitarbeit im Umkreis der gerade erst ausgerufenen „Freideutschen Bewegung“.
Die Deckelzeichnung des drachenbezwingenden Ritters Georg sowie die pathosschwere Fiduszeichnung „Hohe Wacht“ bieten einen visuellen Einstieg in das Heft. Die darauf folgenden Worte von Arthur Kracke, die Wiedergabe der dem Fest vorangegangenen Aufrufe und eine Kurzdarstellung der Wandervogelbewegung fassen die Ideenwelt der Meißnerfahrer knapp und verständlich zusammen. Die sehr unterschiedlich ausformulierten Vorstellungen der freideutschen Bünde und Gemeinschaften sind dagegen in unterschiedliche Richtungen interpretierbar. Zum einen wird die eben knappe Zeit bis zum Fest eine ausgewogene Vorstellung verhindert haben. Betrachtet man es positiv, könnte man meinen, diese Unterschiedlichkeit sei geradezu das Wesensmerkmal freideutscher Identität gewesen. Realistisch und mit Hinblick auf die streitvolle Zukunft der Bewegung läßt sich hieran aber auch die Uneinigkeit und, weitergedacht, die Zerbrechlichkeit der Freideutschen erkennen.
In erster Linie geben die zur Ergänzung eingeholten „Freundesworte“ der Schrift ihren festlichen Gehalt und bieten durch ihre Fülle an Visionen bis heute einen nachhaltigen Wert.
Die angefragten Herrschaften – so kann man dies beim reifen Alter der meisten Grüßenden beruhigt formulieren –, und mit Gertrud Prellwitz zumindest auch eine Frau, füllten die Schrift vielfältig, gedankenreich und inhaltsschwer auf. So vielfältig die Worte nebeneinander standen, so vielfältig betätigten sich diese Menschen auch in darauffolgenden Tagen. Dieser Umstand macht es nicht leicht, dem Treffen vom Meißner eine bestimmte gesellschaftliche Ausrichtung zuzusprechen. Aber wie lauteten denn nun einige Botschaften dieser festlichen Schrift?
Hervorstechend in Inhalt und Umfang sind die „nachhaltigen“ und bis in unsere Zeit hinein gültigen Ideen von Ludwig Klages. Der Philosoph formuliert in seinem Essay „Mensch und Erde“ seine kritische Sicht auf den global und insbesondere im Kaiserreich vorherrschenden Fortschrittsglauben. So stellt Klages fest:
„Worauf aber der Fortschrittler stolz ist, sind bloße Erfolge, sind Machtzuwachse der Menschheit, die er gedankenlos mit Wertzuwachsen verwechselt, und wir müssen bezweifeln, ob er ein Glück zu würdigen fähig sei und nicht vielmehr nur die leere Befriedigung kenne, die das Bewußtsein der Herrschaft gibt.“ (Ludwig Klages, in „Mensch und Erde“ aus Festschrift 1913)
Gänzlich knapper, dafür in Reimen, formulierte Herbert Eulenberg seinen „Festgruß“, der hier in voller Länge zitiert sein soll. Mit dieser harschen Kritik an konventionellen Studentenverbindungen spannt sich der Bogen zum eigentlichen Motiv des alternativen Meißnerfestes:
Ich grüße die Jugend, die nicht mehr säuft,
Die Deutschland durchdenkt und Deutschland durchläuft,
Die frei heranwächst, nicht schwarz und nicht schief.
Weg mit den Schlägern, seid wirklich “aktiv”,
Das Mittelalter schlagt endlich tot!
Ein neuer Glaube tut allen not.
Bringt Humpen und Säbel zur Rumpelkammer,
Verjagt den Suff samt dem Katzenjammer
Und alles, was Euch verfault und verplundert!
Auf, werdet Menschen von unserm Jahrhundert!
Fast sinnbildlich für die gegensätzlichen Ansätze der Festschreiber stehen die Beiträge von Gustav Wyneken und Eugen Diederichs zum Thema Jugendkultur. Stellt Wyneken seine Ideen unter der Frage „Reformphilistertum oder Jugendkultur?“ vor, so erwidert Diederichs mit der Frage „Jugendentwicklung oder Jugendkultur?“ Beide gelangen zu gänzlich verschiedenen Idealbildern von Jugend. Hat ersterer den Anspruch, die Jugend von der Gesellschaft weitestgehend zu lösen und freizustellen, so webt letzterer die Jugend in die „Lebenskultur des ganzen Volkes“ ein. An dieser Streitfrage zwischen Freiheit und Bindung der Jugend zerbrachen nicht nur die Freideutschen und viele Bünde der jungen Bewegung. Diese Frage ist bis heute in jugendbewegten Kreisen aktuell und wird es 2013 noch sein.
Aus der Fülle an Festbeiträgen ist eine Vision zukunftsfroh aufs Jubiläumsjahr 2013 gerichtet. Jeder mag sich seinen eigenen Reim daraus machen, inwieweit der gehegte Wunsch des Wiener Philosophieprofessors überheblich, realistisch oder herzhaft gut gemeint war. In vielerlei Hinsicht ist die freideutsche Bewegung und mit ihr die deutsche Nation diesem hehren Anspruch nicht gerecht geworden. Teilweise wurde er geradezu grotesk entstellt. In anderen Bereichen zehren wir noch heute von der Leuchtkraft des Meißnerfestes.
„…Und in aberhundert Jahren, wenn von uns allen nichts mehr übrig sein wird als die Gedanken und Gelöbnisse, die in den Tagen dieses heutigen Festes gedacht und ausgesprochen werden und dann in Tat und lebendige Wirklichkeit umgesetzt worden sind – wenn dann unsere Kindeskinder wieder auf deutscher Bergeshöhe sich versammeln, um das Befreiungsfest zu begehen, so mögen ihre Augen hinausschweifen auf ein einiges starkes Deutschland, das der Mittelpunkt der Kulturwelt ist, nicht weil es die andern Völker beherrschte und ihnen das Joch seiner Sitten und Gesetze aufzwängte, sondern weil es den Geist menschheitlicher Kultur am vielseitigsten, reinsten und klarsten in sich ausgeprägt und anderen Völkern zum leuchtenden Vorbild hingestellt hat.“ (Friedrich Jodl aus „1813-2013, Ein Programm“ in Festschrift zum 1. Freideutschen Jugendtag1913)
Literatur: Freideutsche Jugend. Zur Jahrhundertfeier auf dem Hohen Meißner 1913. Jena, 1913.
Zusatzdatei: Bünde und Schreiber der Festschrift
Der nächste Gildenabend in Hamburg findet übrigens am kommenden Donnerstag statt und befaßt sich mit der eigentlichen und den weiteren Meißnerformeln.