Nur ein Blechdach schützt uns … im Gazastreifen

von grima

Nur ein Blechdach schützt uns vor der brennenden Sonne. Eben noch lagen viele Kinder mit weißen Gesichtern auf dem Boden, und andere strichen mit rührender Besorgtheit Gipsbinden glatt. Jetzt trocknen diese neben uns auf staubigem Beton, und wir lauschen einem Märchen. Mohin hat den Unterricht heute vorbereitet.

In den letzten Tagen haben wir intensiv mit den Erziehern und Kindern zweier Kinderzentren in Khan Younes gearbeitet. Erst einmal lag uns daran, die Aufgaben, die Funktion und die Arbeitsweisen dieser Zentren zu verstehen. Gar nicht so einfach, haben sich doch seit der Gründung dieser Zentren viele Umstände geändert, wechselten Krieg und relativer Frieden miteinander, entwickelte sich das Schulsystem – und die Menschen sicher auch. Nur, was als Aufgabe der Kinderzentren uns immer genannt wird, das wechselte nicht. „Wir wollen den Kindern der Umgebung mehr bieten, etwas, was sie zu Hause und in der Schule nicht erleben: Chor und Handarbeiten, Computertechnologie und Musikausbildung, Malen und kreatives Gestalten, Theater und Sport.“

Noch in den zwanziger Jahren hatte Palästina das wohl beste Schulsystem der arabischen Welt. In den palästinensischen Universitäten studierten die besten Ärzte.

Heute ist die Kindheit früh vorbei. 50 % der Bevölkerung im Gazastreifen sind unter 15 Jahre alt. Da gibt es eine große Konkurrenz um Schul-, Studien- und vor allem Arbeitsplätze. Nur die Allerbesten kommen wirklich weiter. Verständlich, daß viele Eltern ihr Kind fördern wollen, wo es nur geht. Vielleicht mit einer zusätzlichen Bildung in Kinderzentren? Nein. Mit Kindergärten, in denen bereits Dreijährige in Schuluniform sitzen und schreiben lernen, arabisch und gleich auch englisch. Lesen- und schreiben können ist quasi der Eintrittsschein in die Grundschule.

Die Kindheit mit der Ausbildung der Sinne wird dagegen immer weniger möglich. In der Grundschule herrscht ein fast militärischer Umgangston. Gerüchten zufolge ist der Stock immer noch ein beliebtes Erziehungsmittel. Es wird viel auswendiggelernt und abgefragt. Viele definieren sich hauptsächlich über Noten.

„Wie schön für die Kinder, die zusätzlich ins Kinderzentrum gehen können!“ sollte man meinen. Doch die Kinder, die dorhin kommen, werden von den Eltern zur Nachhilfe geschickt. Die Ausbildung von künstlerischen und praktischen Fähigkeiten zählt in den Augen der Eltern nicht mehr. Es zählen nur Schulnoten. Wer diese nicht erreicht, bekommt Nachhilfe. Arme Kinder gehen dazu ins Kinderzentrum. Damit nämlich überhaupt noch Kinder kommen, bieten die Erzieher dort Nachhilfe fast genauso streng und vor allem auf den Kopf ausgerichtet an wie in der Schule. Die Erzieher sind dafür nicht ausgebildet, und sie tun es vielleicht auch nur darum nicht ungern, weil das Entlanghangeln an Schulbüchern, das Vorlesen von Aufgaben weniger Vorbereitung und Kreativität von ihnen selber fordert. Wenn aber Kinder noch bleiben können oder dürfen, schummeln sie auch immer wieder noch eine Stunde Praktisches dahinter.

In Mohins Märchen war ein Mann in große Schuld gefallen, er war böse geworden, bis hinein in sein Gesicht sah er böse aus. Mit einer guten Maske aber konnte er sein Leben von neuem beginnen.

Über uns sind plötzlich Flugzeuge zu hören, nah und tief. Der Luftraum des Gazastreifens gehört vollständig zu Israel. Wir ducken uns unwillkürlich. Rada kann ein wenig englisch und raunt uns zu: „Maybe a bomb, maybe not!“.

Wir, die wir aus Europa kommen, werden später eine SMS vom „safety office“ erhalten und erfahren, ob etwas Schlimmes passiert ist. Die Araber sagen: „Insha Allah“.

 

Das Märchen geht ohne Unterbrechung weiter. Der Mann mit der guten Maske fühlte sich gezwungen, nun auch immer gut zu handeln, und nach vielen, vielen Jahren, die er mitfühlend an allen Menschen gehandelt hatte, konnte er die Maske nicht mehr abnehmen. Sein Gesicht war eins mit ihr geworden, er war ein guter Mensch geworden.

Mohin spricht mit den Kindern über das Märchen und unsere Gipsmasken. In den nächsten Tagen liegt mein Augenmerk nur noch auf den bisher lustlos gehaltenen Nachhilfestunden in kleinen Altersgruppen.

Ganz schnell kommen wir dahinter, daß der Spaß der Erzieher beim Unterrichten sich auf die Kinder überträgt. Und wenn die Kinder Spaß haben beim Lernen, dann lernen sie erst richtig.

Der Grundsatz, den wir ausgeben, ist einfach: Alles, was gelernt werden soll, muß erst aus irgendwelchen Bewegungen heraus entwickelt werden. Die Fragezeichen sind groß. Wie soll das gehen, Mathematik und arabische Grammatik zu bewegen? Aber mit ein wenig Anstoß von mir können sich bald alle gegenseitig helfen, Bewegungsideen für ihren Unterricht zu entwickeln.

Nach nur drei Tagen bietet sich mir morgens in den Nachhilfestunden folgendes Bild:

Hamdi hat ein Würfelspiel entwickelt (er hat wohl die Nacht daran arbeitend am PC verbracht), bei dem man verschiedene Rechenarten übt. Die Fünftkläßler sitzen fröhlich um ihn, spielen und rechnen.

Muhamad übt mit den Erstkläßlern vorwärts und rückwärts zählen. Dabei klettert einer nach dem anderen die Rutsche hoch und saust hinunter. Sie balancieren im Gänsemarsch über die Wippe und klettern am Bogen. Freudiges Zählen bei allen und lachende Gesichter.

Bei Armeide, deren schrille Stimme im Unterricht ich sonst kaum zwei Minuten aushalten kann, legen Sechstkläßler mit einem Seil einen Zahlenstrahl auf den Boden, und mit Bauklötzen „schreiben“ sie Zahlen daran. Dann rechnen sie lauter Aufgaben mit negativen Zahlen und schreiten am Zahlenstrahl auf und ab. Armeide hält sich mit ihrer Stimme heute zurück.

Im Handarbeitsraum sitzt Rada mit den Zweit- und Drittkläßlern, auch sie übt Mathematik. Dafür hat sie Zahlenkarten, die in den Händen der Kinder hin und hergehen.

Ich habe vor Freude fast Tränen in den Augen. Im Nachgespräch berichtet mir fast jeder, wie viel Spaß er heute beim Unterrichten hatte und welche neuen Ideen er entwickelt hat für morgen.

Da dröhnt und scheppert über uns plötzlich das Blechdach! Ich zucke zusammen. Vor uns stehen drei Jungs mit den Blicken noch oben – da rollt ihr Fußball auch schon wieder herunter.

Weitewelt: Sicher haben sich noch andere Jugendbewegte fernab von Fahrt und Weltenbummlerei für Andere und Anderes engagiert. Schickt uns gerne eure Geschichten und Erlebnisse zu und zeigt, daß Wandervögel, Bündische und Pfadfinder die weite Welt nicht nur durchstreifen, sondern auch ein Stück weit besser machen können.

1 Kommentar - Kommentar schreiben
  1. Arex sagt:

    Tolle Geschichte, da würde man gerne noch mehr erfahren!

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