wg 1.11 – rotgrauer aktionismus

vor genau 80 jahren entstand in berlin eine der ersten jugendbewegten wohngemeinschaften, ein experiment, welches heute allgegenwärtige realität ist. im zuge der von tusk für die dj 1.11 ausgerufenen rotgrauen aktion gründete sich in der kreuzberger ritterstraße am 1.11.1931 offiziell die sogenannte rotgraue garnision. weitere garnisionen in anderen deutschen großstädten wie wien, danzig, leipzig und hamburg sollten folgen. ein garnisionist vermerkte in seinem tagebuch:

„30.10. heute abend nestabend in der garnision. die räume sind sehr gut geworden: vorn zwei bürozimmer für den lasso-verlag, daneben ein großes schlafzimmer. dahinter das berliner zimmer, das mit der warmen roten tapete und dem bild von mario fabelhaft wirkt. neben dem berliner zimmer noch ein kleiner schlafraum. hinten das bad, küche, ein kleines zimmer für mich und noch ein großes zimmer.

[…]

16.11. in der garnision klappt alles gut. es wohnen jetzt 4 mann drin. tusk, heinz, jägulle und ich. ich kann mir schon gar nicht mehr vorstellen, wie es in einem möblierten zimmer ist. die abende in der garnision sind knorke. wir sitzen um den großen tisch und fühlen uns zu haus. meistens haben wir auch besuch. mario ist fast jeden abend da, andrusch kommt oft. die garnision wird langsam der mittelpunkt von dj.1.11 und gibt allen festen rückhalt.

[…]

10.1. wir hatten ein paar mal besuch von auswärtigen. sie benehmen sich ganz verschieden, da die garnision keine jh ist, sondern unsere arbeitsstätte, werden wir künftig leute, die uns nicht passen, rauswerfen.

[…]

24.1. tusk wird ausziehen, weil er hier zu wenig arbeiten kann. demnach braucht? man also doch nerven, um hier zu leben. mir kam alles so selbstverständlich vor.

[…]

25.4. vorgestern zurück von tirol. in der garnision hat sich manches geändert: bill ist wieder da, und wir haben zwei neue leute: otto. ein karlsruher, der mit dem rad nach berlin kam. und bitter. die beiden übernehmen verlags- und hausarbeit, die uns schwer belastete.

[…]

8.5. unser kollektiv ist wie eine gruppe auf großfahrt. wir sind immer zusammen und ganz aufeinander angewiesen. geld und verpflegung sind gemeinsam. jetzt, nachdem ungeeignete ausgeschieden sind, klappt es ausgezeichnet.“[1]  

 

einer der mitbewohner der rotgrauen garnision in berlin war harro schulze-boysen, der zusammen mit tusk die jugendbewegte zeitschrift „pläne“ herausgegeben haben soll. fakt ist, daß schulze-boysen nach dem polizeilich erzwungenen verlust der eigenen redaktionsräume zeitweise in der garnision unterkommt. tusk wirkte mit artikeln an dessen zeitschrift „der gegner“ mit. auch sonst schien es einen austausch zwischen beiden redaktionen gegeben zu haben. laut coppi sollen schulze-boysen und koebel im juni 1932 sogar ein mögliches zusammengehen besprochen haben.[2] womöglich im berliner zimmer?

auch heute bietet eine wg gelegenheit für große pläne und visionen. zur verwirklichung sollte eine wohn- zur tatgemeinschaft reifen, so wie es die wg vom 1.11 tat. und was ist mir dir? wohnst du noch oder strebst du schon?

 

bildquelle: oskar just, der fahnenträger, 1931

 


[1] zitiert aus: Kurt Schilde: Jugendopposition 1933-1945, Lukas Verlag 2007, Seite 117 ff.

[2] vergleiche: Hans Coppi: Harro Schulze-Boysen, Wege in den Widerstand, Verlag Dietmar Fölbach 1992, Seite 80

Nachtrag: Von Arno Klönne erreichte uns untenstehende Leserzuschrift, die wir gerne mit seinem Einverständnis unserem Text ergänzend und korrigierend hinzufügen. Besonders spannend fanden wir den Hinweis auf den Besuch von Alfred Kurella in der rotgrauen garnison. Weitere Ergänzungen erhoffend, haben wir die Kommentarfunktion für diesen Artikel aktiviert:

“das verhältnis zwischen tusk mit seiner zeitschrift PLÄNE und harro schulze-boysen mit seinem GEGNER war nicht so, wie es in dem beitrag über rot-grauen aktionismus geschildert wird. harro schulze-boysen war nicht mitbewohner der rot-grauen garnison, dort wurde ihm nur für kurze zeit zuflucht für seine büroarbeiten gegeben. zwischen den beiden zeitschriften fand kein reger austausch statt, tusk hat im GEGNER lediglich eine umfrage beantwortet. vorbesprochen war im sommer 1932 ein zusammengehen der beiden zeitschriften, was sich aber zerschlug, als harro schulze-boysen sich für die kooperation mit fred schmid entschied, dem führer des jungenbundes graues korps. fred schmid publizierte dann im GEGNER und finanzierte ihn. tusk kritisierte in den PLÄNEN ziemlich rigoros den GEGNER und schulze-boysen mit politischen argumenten, dort werde ein irrealer dritter weg, eine nur verwirrende querfront angestrebt. auch lehnte tusk die persönlichkeit fred schmids ab, er hielt ihn für einen jugendverführer. bei alledem hat vermutlich auch die rivalität zweier jugendbünde eine rolle gespielt. die widerstandstätigkeit von harro schulze-boysen hat tusk allerdings später zu würdigen gewußt. in der rot-grauen garnison trat übrigens im sommer 1932 als referent alfred kurella auf, früher wandervogel und freideutscher, dann aktivist in der kommunistischen partei und jugendinternationale.     freundliche grüße arno klönne”

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  1. Redaktion sagt:

    kommentare frei!

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