von Thies
1996 schreibt Karl Otto Hondrich in der Zeitschrift „Der Spiegel“ über die Wächter des Wertkonsens:
„Ihr Zorn richtet sich nicht so sehr auf diejenigen, die dem Wertkonsens den Kampf ansagen. Denn mit den erklärten Gegnern teilen sie ja zumindest ein Wertengagement. Deswegen verstehen Marktwirtschaftler Marxisten, Linke verstehen Rechte – und brauchen einander. Ihr schlimmster gemeinsamer Feind aber sind die Wahrheitssucher, die nach dem jeweils herrschenden Konsens nicht fragen.“
Es scheint, als ob unser Gildenbruder Rüdiger Lancelle, Referent auf dem Bundestag der Deutschen Gildenschaft auf Burg Ludwigstein, genau so ein Wahrheitssucher werden wollte.
Rüdigers bewegtes studentisches Leben rund um den Mauerbau lieferte den Rahmen für die philosophischen Avancen eines wahren Freigeistes. In einem kaisertreuen Haushalt aufgewachsen lockte es den jungen Frankfurter Studenten schon 1960 zum SDS. Wieso zum SDS? Für Rüdiger Lancelle steht fest: „Wenn mir was ungerecht vorkommt, dann bin ich gerne bereit mich einzumischen. Und der SDS war damals eine Einmischgruppe in den ganz normalen akademischen Betrieb. [...] Man muß die Dinge beim Namen nennen, die nicht in Ordnung sind“. Parallel trat er der Frankfurter Hochschulgilde „Vom Stein“ bei, wo er Freunde fand sowie echten Persönlichkeiten begegnete. Als ihn seine akademische Ausbildung nach Berlin verschlug, vermißte er diese Gemeinschaft. Schon bald gründete er die Berliner Gilde. Rüdiger: „Bis zum Mauerbau konnte ich mit Freunden eine Gruppe von Studierenden der drei Berliner Universitäten aufbauen, das waren damals die Freie Universität, die Technische Universität und die Humboldt Universität. Das war die Akademische Gilde Berlin. Eine hochinteressante Gelegenheit, über die verschiedenen Disziplinen hinweg miteinander im Gespräch zu sein“.
Bald schon befand sich die junge Gilde in einer Bewährungsprobe. „Am 12. August 1961 gingen wir entlang der Grenzlinie zwischen dem Ostsektor und den drei Westsektoren […]. Da fiel uns einiges sehr auf. Wir waren vertieft in das Gespräch „Was wird aus unserem Vaterland?“ – und wurden gewahr ein Geräusch […]. Das waren Panzer rings um Berlin. Es gab also ein Riesenmanöver rings um Berlin.“. Der Bau der Berliner Mauer einen Tag später trennte die Freunde. „Das stellte uns dann im Westteil der Stadt sofort und auf der Stelle, sozusagen über Nacht, vor das Problem: Wie helfen wir denen, die raus müssen? (Das, was dann unter „Fluchthilfe“ bekanntgeworden ist.) Diese Aufgabe hat uns sehr in Anspruch genommen, wochenlang natürlich. An einen normalen Studienbetrieb war da nicht mehr zu denken, für mich nicht und für meine Freunde nicht. Diese Akademische Gilde Berlin hat dann aus meiner Sicht Wunderbares organisiert – Wunderbares strafrechtlich zu Verfolgendes.“ Gemeinsam mit anderen Gildenkreisen wurden Pässe gefälscht und geschmuggelt, oppositionelle DDR-Bürger für die Passage geschult und schließlich in den Westen geschleust. Aber warum dieses unglaubliche Risiko eingehen, warum sich strafbar machen? „Wir hatten den Eindruck, daß wir in Freiheit lebten, und das verpflichtete uns, das anderen Menschen auch zu ermöglichen, soweit sie sich danach sehnten“, so Rüdiger. Einige Monate ging alles gut, dann wurden die jungen Studenten verraten. Das war das Aus für die Fluchthilfe, für die Grenzverstöße. Was blieb, war die Freiheitsliebe. „Es hat nicht nur Charme, sondern es ist die Grundlage unserer Freiheit, daß wir unterschiedlichste Einstellungen, Erkenntnisse aushalten, respektieren und uns dann trefflich streiten. Deswegen war das für mich damals auch kein Spagat oder sowas, mich da und dort umzusehen.“
Auffallend war, daß quer durch alle Lebenslagen Rüdiger Lancelle seinem persönlichen Anspruch von Toleranz stets treu blieb. Niemals war eine andere Meinung gefährlich, sondern, solange eine Diskussionskultur voller Respekt herrschte, immer bereichernd. „Für mich ist Toleranz ein Kernbegriff für mein Leben. Daß ich aushalte, daß jemand einen anderen Weg geht, daß ich aushalte, daß jemand eine andere Überzeugung lebt. Deshalb habe ich Schwierigkeiten mit Abgrenzungen.“ Allerdings mußte auch Rüdiger eingestehen, daß diese Kultur heutzutage weitestgehend verloren ist. Ihm galt es jedoch immer, die wahren Probleme beim Namen zu nennen, sich keine Redeverbote erteilen zu lassen und Freundschaften über alle politischen Grenzen hinaus zu erhalten. Ein wahrer Querdenker!
Der Vortrag von Rüdiger Lancelle war allerdings nur ein Aspekt unseres Wochenendes auf Burg Ludwigstein. Bereits am Freitag waren einige Gildner der Einladung zur Lesung von Berry Westenburger auf dem Kirschenfest, das parallel stattfand, gefolgt. Abends gesellte sich dann dafür bald manch einBesucher des Kirschenfestes zur Gildenschaft in den Rittersaal, um bei Gesang und Trank den Freitag in froher Gemeinschaft ausklingen zu lassen. Der Samstag verflog schnell, mit Vortrag, Wanderung und vielen Gesprächen, und bald schon stand der Festabend an. Nach einem herrlichen Essen und stundenlangem Tanzen wurden wieder die Instrumente aus der Ecke geholt. Mit Geige, Flöte und Gitarren begleitet klangen unsere Lieder wieder, bis der Morgen graute. Der Sonntag begann früh mit dem Festvortrag von Prof. Dr. Murswiek zum Thema „Demokratische Legitimierung in der EU“. Der Referent schaffte es, den komplizierten Apparat der EU zu erläutern und seine Konflikte zum Grundgesetz, insbesondere unter Berücksichtigung der Stimmgewichtung bei den Wahlen zum Europäischen Parlament, darzulegen. Nun galt es für all diejenigen Abschied zu nehmen die nicht länger auf der Burg verweilen konnten, um den Bau des Enno-Narten-Baus zu unterstützen. Diese konnten jedoch mit ruhigem Gewissen den Heimweg antreten in dem sicheren Bewußtsein, daß zahlreiche Hände am nächsten Tag die Bautruppe unterstützen würden. Insgesamt war das Wochenende auf Burg Ludwigstein ein voller Erfolg, insbesondere durch die harmonische Grundstimmung aller auf der Burg und den erfrischenden Rückblick auf eine historische Anekdote der Deutschen Gildenschaft.