Nachts wachliegen

 

schlaflos2Schneeballsystem einer politischen Kampagne

von Isa

Es gibt Nächte, in denen man nicht schlafen kann, weil die Ereignisse der letzten Zeit einen nicht loslassen. Weil man nicht begreifen kann, was geschieht. Weil man irgendwie lernen muß, damit umzugehen.

Diese Worte schreibe ich – in ihrer Erstfassung – in einer schlaflosen Nacht, sie sind entstanden nach mehreren Stunden Nachgrübeln, nach mehreren Stunden seelischem Schmerz, wie er entsteht, wenn man demokratische Freiheitsideale, als Jugendliche verinnerlicht, in Trümmer fallen sieht und die Zeit des unbeschwerten Frohseins so unendlich weit zurückzuliegen scheint.

Was ist geschehen?

Vor kurzer Zeit stellte die SPD-Bundestagsfraktion eine kleine Anfrage an die Bundesregierung, schwerpunktmäßig auf den Jugendbund „Sturmvogel“ bezogen, aber weiter auch auf andere Bünde zielend – Bünde, die seit etwa einem Jahr von einer Diffamierungskampagne betroffen sind , wie sie in diesem Ausmaß wohl keiner für möglich gehalten hätte.

Als Vorstandsmitglied der Deutschen Gildenschaft habe ich sie von Beginn an intensiv miterlebt. Den Ablauf der Kampagne möchte ich im Folgenden rekapitulieren, weil nur so das bisherige Vorgehen sichtbar wird.

Balduinstein

Den Auftakt bildeten Diskussionen innerhalb der bündischen Welt um den Ausschluß des Freibunds vom „Rheinischen Singewettstreit“ als Nachfolger des „Würzburger Singewettstreits“, obwohl Freibünder an letzterem über Jahre hinweg ohne negative Vorfälle teilgenommen hatten. Diese Diskussionen wurden auch innerhalb bündischer Zeitschriften ausgetragen, einer der ersten, stimmungsanheizenden Beiträge stammt von einem Mitglied der Deutschen Freischar.[1] Der eigentliche Startschuß der Kampagne fiel jedoch mit einer Veranstaltung der Jugendburg Balduinstein vor einem knappen Jahr.

Die Teilnehmer wurden – psychologisch geschickt – zunächst mit einem Film konfrontiert, der die Partei „Republikaner“ thematisierte[2], fern der jugendbewegten Welt. Jedoch wurden die dort getroffenen Einschätzungen – willkürlich – auf die Bünde übertragen, die bei jener Veranstaltung im Fokus standen: Freibund, Sturmvogel, Deutsche Gildenschaft, Fahrende Gesellen, Deutscher Mädchenwanderbund. Es folgte ein Vortrag von Jesko Wrede und Maik Baumgärtner, in dem „Fakten“ über die betroffenen Bünde mit einer gezielt realitätsverzerrenden Methodik präsentiert wurden. Im Wesentlichen gehört zu dieser Methodik die Neukonstruktion von Kontexten: die Vergangenheit von Bünden steht für deren Gegenwart, Neuorientierungen werden bewußt ignoriert. Einzelne radikale Familienmitglieder werden als exemplarisch für ganze Familien dargestellt, jungen Menschen ohne Anhörung ihrer eigenen Positionen die Ansichten ihrer Eltern, Großeltern oder auch von entfernteren Verwandten unterstellt. Zahlreiche Namen werden in schneller Abfolge präsentiert, einzelne Sätze aus längeren Texten gerissen und in neuen Kontexten neu – und ins Konzept der Veranstalter passend – präsentiert, der ursprüngliche Sinn dabei häufig stark verzerrt.

So entstand im Lauf der Veranstaltung eine Stimmung, die sich zunehmend feindlich verdichtete, bis hin zum Singen eines Liedes, in dem „rechte Bündische“ als „Küchenschaben“ tituliert wurden.

Damit war der Keim gelegt: zahlreiche Bündische, die die Veranstaltung besucht hatten, trugen diese verzerrte Darstellung hinaus in die bündische Welt.

„Wer trägt die schwarze Fahne dort …“

Doch die Diskussionen blieben nicht dort: die Referenten vom Balduinstein waren entschlossen, die Kampagne fortzusetzen, diesmal mit größerer Öffentlichkeit. Aus ihrer Feder stammt die Broschüre „Wer trägt die schwarze Fahne dort“, erschienen in kleiner Auflage bei der „Arbeitsstelle Rechtsextremismus und Gewalt“, gefördert vom Bundesfamilienministerium im Programm „Vielfalt tut gut“. Stigmatisierend wirkt schon allein das Erscheinen in diesem Umfeld: was hängen bleibt, sind die Schlagworte „Rechtsextremismus und Gewalt“, obwohl von den betroffenen Bünden nahezu durchgehend Bekenntnisse zur Demokratie, zur freiheitlich demokratischen Grundordnung vorliegen und Gewalt selbstredend keinerlei Akzeptanz findet. Stigmatisierend wirkt weiterhin, daß fast alle anderen dort erschienenen Publikationen sich um NPD und freie Kameradschaften drehen. Band 1 der Reihe „Konzepte für Demokratie und Toleranz“ behandelt Ein- und Ausstiegsprozesse von Rechtsextremen, nahezu durchgängig in gewaltbereiten bis hin zu terroristischen Umfeldern. Band 2 betrifft uns.

Uns? Kann doch gar nicht sein! Doch, es ist wahr, es ist kein Traum, aus dem man erwachen könnte, kein Film, den man aus- oder abschalten könnte.

Die Methodik der Broschüre gleicht derjenigen, die schon auf dem Balduinstein zum Tragen kam. Hinzu kommt, daß auch zahlreiche unbeteiligte Namen eingestreut wurden, Menschen und Institutionen, die sich in den Augen der Autoren wohl zu stark solidarisiert oder nicht schnell genug von den Verfemten distanziert haben. Ein Personenregister, am Ende angehängt, erhöht den stigmatisierenden Effekt.

Die geringe Auflage war schnell vergriffen, man setzte offenbar darauf, daß sie sich durch Verleihen und private Kopien schnell in weit größerer Zahl im bündischen Umfeld verbreiten würde. Die teils nachlässige Recherche führte zujuristischen Nachspielen: Einforderungen von Unterlassungserklärungen, die (z.T. erst unter Zwang in der laufenden Gerichtsverhandlung) auch unterschrieben wurden – von der Öffentlichkeit jedoch weitgehend unbemerkt.

In anderen Fällen sind die Autoren jedoch sprachlich so geschickt vorgegangen, daß der juristische Weg verschlossen bleibt: während beispielsweise das Attribut „rechtsextrem“ justiziabel ist und einer fundierten Belegung bedarf – die an keiner Stelle erbracht wird – darf die Wortkombination „extrem rechts“ beliebig verwendet werden. Der Effekt auf die öffentliche Meinung ist jedoch identisch.

Die Auswirkung der Broschüre war fatal: das Siegel des Bundesfamilienministeriums gab den Autoren, von denen einer auch schon Artikel für die linksextremistische[3] Tageszeitung „junge Welt“ schrieb[4], in der Öffentlichkeit Glaubwürdigkeit und Seriosität.

rechte-jugendbuende.de

Doch damit nicht genug: neben der Broschüre wurde von eben jenen Autoren ein Internetblog eingerichtet, auf dem mit gleicher Methodik in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen weitere „Fakten“, gewonnen häufig durch ein systematisches Überwachungssystem unter Einbezug heimlicher Kameraaufnahmen, und vor allem Namen präsentiert werden.

Dabei wird die enorme Bedeutung von Suchmaschinen in der heutigen Zeit gezielt genutzt: der neue Blog dient als virtueller Pranger und existentielle Ängste auslösendes Druckmittel. Angst bei den Betroffenen: bei Google mit vollem Namen im Kontext von rechtsextremen Schlagworten aufzutauchen. Da die meisten Nennungen junge Menschen betreffen, mag jeder sich vorstellen, was das bedeutet in einer Zeit, in der Arbeitsplätze rar sind und Arbeitgeber bei Bewerbungen gerne zum Mittel der Google-Suche greifen.

Angst bei den nicht Betroffenen: in die Kampagne einbezogen zu werden.

Distanzierungen

Unter diesem Aspekt wird klar, was danach passieren mußte: ein jugendbewegter Bund nach dem anderen verabschiedete eine Distanzierungserklärung, die ersten möglicherweise aus politischem Kalkül heraus, die folgenden zunehmend unter Zugzwang und aus Angst, durch die zunehmende Öffentlichkeitswirkung der laufenden Kampagne ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Die Distanzierungserklärungen sind meist allgemein gehalten, wenden sich gegen Menschenverachtung, Rassismus und Rechtsextremismus – so weit, so schön: wer will schon menschenverachtende Meinungen unterstützen?

Ihren Effekt innerhalb der laufenden Kampagne entfalteten sie erst damit, daß sie auf den Blog rechte-jugendbuende.de eingestellt wurden. Dadurch wird der Öffentlichkeit suggeriert, diese Distanzierungen bezögen sich auf eben jene dort thematisierten Bünde. Die Namen der Bünde werden nun – juristisch nicht anfechtbar – gedanklich mit Menschenverachtung und Rassismus verknüpft, ohne daß der Blogbetreiber jemals direkt diese Titulierung verwendet hätte.

Das Ergebnis ist klar: mit jeder neuen Distanzierungserklärung auf besagtem Blog wächst die Isolation, die Unberührbarkeit der Betroffenen, mit jeder neuen Erklärung scheinen die Vorwürfe mehr Substanz zu bekommen, verfestigen sich, werden die Mitglieder suspekter: wenn alle sich distanzieren, muß es ja auch genau so stimmen – differenziertere Betrachtungsweisen werden zunehmend unmöglich.

Nach dem Schneeballsystem wurde eine öffentliche Gefahrwahrnehmungslawine erzeugt, die mittlerweile zum Selbstläufer geworden ist und der die betroffenen Bünde weitgehend ohnmächtig ausgeliefert sind.

Medienecho und Politik

Das Medienecho wächst seit Beginn dieses Jahres noch weiter an: der Sturmvogel als kleinster Bund, derjenige, dessen Mitglieder in der bündischen Welt am wenigsten bekannt sind, denen man daher leicht alles mögliche unterstellen kann, ohne daß Gegenbilder existieren, gerät in den Fokus kampagnenerfahrener Journalisten. Artikel finden sich zuerst in der taz, dann in der ZEIT: über Silvester 2009/10 wurde laut taz-Artikel ein Winterlager mit etwa 40 (!) Personen, d.h. Kindern inklusive Betreuern, durchgeführt – die Anzahl entspricht damit gerade mal einer größeren Schulklasse.[5]

Nun hat die laufende Kampagne auch Auswirkungen auf die Politik: es folgte eine schriftliche Frage der Abgeordneten Monika Lazar (Bündnis90/ Die Grünen) an die Bundesregierung, den Sturmvogel betreffend[6], sowie eine Anfrage der Abgeordneten Pia-Beate Zimmermann (Die LINKE) im niedersächsischen Landtag[7].

Mittlerweile hat die SPD nachgezogen: mit einer kleinen Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion, die ihren Schwerpunkt auf den Sturmvogel legt, aber auch andere Bünde erwähnt. Erste Verbotsforderungen werden gestreift, obwohl derzeit keine Hinweise auf verfassungsfeindliche Bestrebungen vorliegen.[8] Auffällig ist die Detailliertheit der Anfrage, wie sie mit der bündischen Welt nicht vertrauten Politikern eigentlich schwergefallen sein müßte[9] – man fragt sich beim Lesen unwillkürlich, auf welche Kreise diese Ausformulierung wohl zurückgeht.

Angesichts der losgetretenen, surreal anmutenden Politikmaschinerie tritt die jugendbewegte Welt wie ein ferner Gruß aus einer anderen, unbeschwerten Zeit zurück.

Jetzt gilt es, nicht zu verbittern, nicht zu verhärten, sich ein solches Freund-Feind-Denken nicht aufzwingen zu lassen, jugendbewegten und demokratischen Freiheitsidealen treu zu bleiben – auch und gerade in einer Welt, die einen als ohnmächtigen Spielball zurückläßt und jedes Ideal immer schneller vergißt.

Immerhin: die Antwort der Bundesregierung auf die kleine Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion läßt die Hoffnung auf rationale Einschätzungen, auf ein Auslaufen der Lawine wieder aufkeimen:

Auch nach aktueller Bewertung liegen keine Anhaltspunkte für eine extremistische Ausrichtung vor.[10]


[1] Vgl. Stichwort 3/2008 – „Schon vergessen ?“

[2] Michael Schomers, „Deutschland ganz rechts – sieben Monate als Republikaner“, 1991

[3] vgl. Verfassungsschutzbericht 2008, http://www.bmi.bund.de/cae/servlet/contentblob/463552/publicationFile/40129/vsb_2008.pdf, S.151, Einsicht 10.03.2010

[6] http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/004/1700494.pdf, S.3, Frage 5, Einsicht 18.03.2010

[8] ebenda


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