Ansitzgedanken

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Published on: 18. Oktober 2009

hesseVon schrubbel (DPB, Gau Goldener Löwe)

Heute morgen beim Ansitz saß ich da, lauschte auf die Geräusche in meiner Umgebung und spürte den Wind an meiner Nasenspitze. In so einem Moment verrät mir meine Nasenspitze, ob er von vorne, von rechts oder von links weht.

Was ist aber nun, wenn der Wind von hinten kommt? Das kann mir meine Nasenspitze nicht verraten.

Somit kann das Gefühl in meiner Nasenspitze nur eine sehr begrenzte Aussage über den Wind machen. Was vor allem muß ich noch bedenken? Ist da vorne eine Baumgruppe oder dahinten ein Bergrücken, die beide den Wind ablenken könnten? Und, und, und…

Unsere Wahrnehmung ist auch in Bezug auf andere Menschen oftmals genauso begrenzt, wie das Gefühl in der Nasenspitze, das ich hier beschrieben habe.

Hermann Hesse hat dafür folgende wunderbare Worte gefunden:

„Urteile sind nur wertvoll, wenn sie bejahen. Jedes verneinende, tadelnde Urteil, wenn es als Beobachtung noch so richtig ist, wird falsch, sobald man es äußert. Was Menschen übereinander reden, davon sind zwei Drittel solche „Urteile“. Wenn ich von einem Menschen sage, er sei mir zuwider, so ist das eine ehrliche Aussage. Wer sie hört, dem ist es anheimgegeben, ob er die Schuld an diesem Zuwidersein mir oder dem andern zuschreiben will. Sage ich aber von jemand, er sei eitel oder geizig, oder er trinke, so tue ich unrecht. Auf diese Art ließe jeder Mensch sich rasch durch Urteile „erledigen“. Für diese Art von Urteil ist Jean Paul ein Biertrinker, Feuerbach eine Sammetjacke und Hölderlin ein Verrückter gewesen. Ist damit etwas über sie gesagt, etwas von ihnen gegeben? Ebensogut kann einer sagen: die Erde ist ein Planet, auf dem es Flöhe gibt. Diese Art von „Wahrheiten“ sind der Inbegriff aller Fälschung und Lüge. Wirklich wahr sind wir nur, wo wir jasagen und anerkennen. Das Feststellen von „Fehlern“, und klinge es noch so fein und geistig, ist nicht Urteil, sondern Klatsch.“

(Lektüre für Minuten, Seite117/118, 1. Auflage 1977, Suhrkamp Verlag)

Ich kann mich diesem Zitat nur anschließen, denn wir nehmen immer nur kleine Teilaspekte unseres Gegenübers wahr. Wir sind selten fähig, vor allem wenn es zu Unstimmigkeiten kommt, wirklich den ganzen Menschen zu betrachten. Diese kleinen Teilaspekte, die wir dann für die Wahrheit halten, lassen ein unglaubliches Zerrbild des eigentlichen Menschen entstehen.


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