von semmi (jungenschaft kreuzritter)
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Bündische Gruppen stehen außerhalb der etablierten Vereinsstruktur.
Das wirkt arrogant.
Bündische Gruppen verzichten auf Lizenzen, auf Anerkennung und öffentliche Gelder.
Das macht sie unheimlich.
Bündische Gruppen sind organisatorisch nicht einzuordnen.
Das wirkt befremdlich.
Bündische Gruppen sind immer etwas anders, als man denkt.
Das ist faszinierend.
Bündische Gruppen haben für die, die ihnen angehören, eine außerordentliche Bindungskraft.
Das macht neugierig.
Pfadfinder, Katholische/Evangelische Jugend, Sportjugend, Rot-Kreuz-Jugend oder Alpenvereinsjugend – da weiß man, was man hat. Bündische Jugend ist alles zugleich und doch nichts davon. Das hört sich paradox an. Bündische Jugend ist paradox. Darum ist es so schwer, zu erklären, was das eigentlich ist. Ich will es dennoch versuchen. Und will versuchen zu zeigen, was substanziell und was akzidenziell ist. Auf deutsch, was das Wesen bündischer Jugend ausmacht und was nur Erscheinungsform, also im Prinzip austauschbar ist.
Bund – Verein: kein Gegensatz, sondern etwas völlig anderes
Das Wort bündisch kommt von Bund. Damit ist zugleich gesagt, daß Bünde keine Vereine sind. Einen Verein kennzeichnet, daß er Menschen vereint, die ein gemeinsames Interesse haben. Freundschaft unter diesen Menschen ist nicht Bedingung, sondern eine Folgeerscheinung, die billigend in Kauf genommen wird. Wenn der Vereinszweck erfüllt ist, kann sich ein Verein auflösen.
Einen Bund bzw. eine bündische Gruppe kennzeichnet, daß sie Menschen vereint, die sich mögen und die deshalb versuchen, möglichst viel und durchaus auch Unterschiedliches gemeinsam zu tun und zu erleben. Das Verfolgen gemeinsamer Interessen ist daher nicht Voraussetzung, sondern billigend in Kauf genommene Folge. Deshalb ist zum Beispiel der Bund der Steuerzahler trotz seines Namens ein Verein.
Aus diesem Wesensunterschied ergibt sich bereits der erste phänomenologische Unterschied. Was Vereine am Leben erhält, sind Strukturen. Natürlich brauchen Strukturen auch Menschen, die sie mit Leben füllen. Aber die Strukturen bleiben, auch wenn die Menschen wechseln. Deshalb handelt es sich bei Vereinen um Organisationen, die im Prinzip ewig existieren. Das sichert ihnen Kontinuität.
Bünde hingegen sind Organismen. Und wie Organismen haben sie ihre Jugend, ihre Blütezeit und auch ihr Ende. Denn ihre Strukturen und Interessen sind ohne Folgen veränderbar. Wenn aber die Menschen ausscheiden, um die herum sich das Leben einer Gruppe kristallisiert, ist diese Gruppe tot. Da ist Kontinuität zwar ein Zufallsprodukt, aber dafür Lebendigkeit gesichert.
Organismen ist Organisation fremd. Deshalb gibt es eine Unzahl von Bünden, aber keinen bündischen Dachverband, keine Organisationszentrale und kein Zentralorgan. Deshalb ist auch Bund nicht gleich Bund – es gibt Bünde mit zehn Mitgliedern und Bünde mit mehreren tausend Angehörigen. Es gibt Jungen- und Mädchenbünde. Es gibt linke und rechte Bünde, christliche und heidnische, konservative und progressive. Was immer es in der Gesellschaft gibt, das spiegelt sich auch in der Bündischen Jugend. Was bündische Jugend – im engeren Sinne wohlgemerkt – verbindet, ist ihr Wesen. Was sie untereinander teilweise grundlegend unterscheidet, sind ihre Erscheinungsformen. So ist die Bündische Jugend als Sammelbegriff im Grunde untauglich. Wir reden besser von einer bündischen Szene. Szenen sind nicht organisiert, aber vernetzt – ähnlich wie zum Beispiel die Szene der Bürgerinitiativen. Ein Biotop, in dem auch Unkräuter ihre ökologische Nische finden.
Wenn ich vorhin von einer bündischen Jugend im engeren Sinne gesprochen habe, impliziert das eine bündische Jugend im weiteren Sinne. Zu ihr zählen zum Beispiel Pfadfinderverbände, die bündische Erscheinungsformen pflegen, ohne in ihrer Struktur wesensmäßig bündisch zu sein.
Vom Grundsätzlichen wieder zurück zum Konkreten. Da Freundschaft also wesensmäßig ist für bündische Gruppen, ergeben sich daraus konsequenterweise drei Erscheinungsformen: Erstens der Verzicht auf das Streben nach großen Mitgliederzahlen. Quantität ist uninteressant, interessant ist allein die Qualität – nicht des Menschen wohlgemerkt, sondern der Beziehung. Zweitens, daß man sich bei einer bündischen Gruppe nicht anmelden kann und diese Gruppe keine Streuwerbung veranstalten wird. Die in eine Gruppe passen, müssen sich suchen und finden – wie bei jeder Freundschaftsbeziehung. Drittens, daß es um Freundschaft in der Gruppe geht, eine Freundschaft, die in allen Altersstufen trägt. Deshalb sind bündische Gruppen in der Regel nicht koedukativ.
Selbstverständlich sind Freundschaften zwischen Jungen und Mädchen von gleichem Rang. Aber nicht von gleicher Qualität. Denn sie sind wesensmäßig nicht gruppenorientiert, sondern paarbezogen und werden üblicherweise nur ab einer bestimmten Altersstufe goutiert, eine Erfahrung also, die die Jüngeren ausschließen würde. Dennoch gibt es natürlich genügend koedukative Verbände oder gemischte Verbände mit Jungen- und Mädchengruppen. Ein Pluralismus, der es erlaubt, jedem Geschmack gerecht zu werden. Und das ist gut so.
Ein letzter Punkt: Freundschaft in der bündischen Gruppe ist altersübergreifend. Sie schließt den Führer der Gruppe notwendig mit ein. Und schließt damit eine pädagogische Subjekt-Objektbeziehung aus. Die Jungen sind nicht Objekte pädagogischer Konzepte. Der Führer steht der Gruppe nicht als Leiter gegenüber, die Jungen dem Führer nicht in ihrer Eigenschaft als Angehörige einer pädagogischen Zielgruppe. Der funktionalen, letztlich austauschbaren Leitung steht die personale, nicht austauschbare Führung gegenüber. Ihr Merkmal: der gemeinsame Weg, auf dem der Führende lediglich einen Schritt voraus ist. Deshalb ist er weder von oben eingesetzt noch demokratisch gewählt. Seine Autorität ist eine natürliche und gilt nur solange, wie sie von seinen Jungen akzeptiert wird. Pädagogisches Wirken ist in bündischen Gruppen nicht Ziel, sondern Ergebnis des gemeinsamen Weges. Darin unterscheidet sich Jugendbewegung von der Jugendpflege. Sie macht, aber ist keine Jugendarbeit.
Wo kommen wir eigentlich her?
Bündische Jugend ist natürlich nicht vom Himmel gefallen. Sie hat ihre Geschichte, und die begann schon einige Zeit, bevor man den Begriff überhaupt kannte.
Um die Jahrhundertwende, kurz nach jenem sozialgeschichtlichen Epochenwechsel, der zwischen Kindheit und Erwachsenenalter so etwas wie ein eigenständiges Jugendalter entstehen ließ, gab es unabhängig voneinander in Deutschland und England zwei Phänomene. Beide Teil eines Umbruchs, der sich auf allen Ebenen vollzog und nur vergleichbar ist mit der Aufbruchszeit nach 1968. Stichworte: Industrialisierung, Massenverelendung, Verstädterung, Zusammenbruch der alten Wertesysteme und das Aufkommen einer Fülle neuer Ideologien, Parteien, Sekten und Lebensreformbewegungen. In England gründete ein weitsichtiger Erwachsener, General Robert Baden-Powell, eine Bewegung, die soziale Unterschiede ausgleichen und die entfremdeten Jugendlichen zu einer gesünderen Lebensweise führen sollte. Die Bewegung mündete rasch in eine landesweite, später internationale Organisation. Das Ergebnis war eine institutionalisierte Jugendarbeit, die letzten Endes dem Staat treue Bürger erzog. Diese Organisation nannte sich Boy Scouts. Und als sie in Deutschland Fuß faßte, Pfadfinder.
Ihre Kennzeichen: Uniformen, Märsche, Leben in der freien Natur, allerdings in organisierten Lagern. Wenn das an Militärisches erinnert, ist das kein Zufall. Auch in Deutschland waren Heeresoffiziere die treibenden Kräfte, und was ihnen vorschwebte, würde man heute als staatstragende Wehrsportgruppe bezeichnen.
Wenige Jahre zuvor entstand in Deutschland eine Bewegung von ähnlicher Dynamik, aber gänzlich anderem Charakter. Sie blieb zwangsläufig Bewegung, weil sie von Jugendlichen getragen wurde, die sich von der als spießig empfunden Bürgerwelt der Erwachsenen und ihrer Organisationen bewußt absetzte. Sie war eine auf den deutschen Sprachraum beschränkte, teilweise restaurative Kulturrevolution, die Stadtflucht und das “Zurück zur Natur” mit utopischen Gesellschaftsentwürfen verband. Ihr Name: Wandervogel. Ihre Kennzeichen: wildes Räuberzivil mit langen Haaren, kurzen Hosen und ohne Krawatte, Wanderungen, Leben in der freien Natur, allerdings unorganisiert nach Art der fahrenden Schüler des Mittelalters.
Der erste Weltkrieg machte beide Phänomene zu Anachronismen. Aber aus der Begegnung der Wandervögel und der Pfadfinder entstand, wiederum beschränkt auf den deutschen Sprachraum, eine Synthese, die das Zielgerichtete, Disziplinierte, Apollinische der Pfadfinder und das Gegenwartsselige, Freiheitsdurstige, Dionysische der Wandervögel verband. Die so entstehenden Bünde nannten sich bündisch. Als dritte Richtung neben den Wandervögeln und Pfadfindern entstanden später noch die Jungenschaften, die in ihrer geistigen Weite und ihrem kulturellen Interesse ihrer Zeit weit voraus waren und bis heute stilbildend wirkten. Die wesentlich Bündischen blieben stets eine winzige Minderheit, ihre Erscheinungsformen aber waren so attraktiv, daß sie von der Kirchenjugend bis zur Arbeiterjugend adaptiert wurden. Leider auch von der Hitlerjugend. Wie gut man aber gerade in der Hitlerjugend das fundamentale Auseinanderklaffen zwischen Form und Wesen begriff, zeigt die Tatsache, daß unmittelbar nach der Machtergreifung der Nazis der allererste Amtsakt des neuen Reichsjugendführers Baldur von Schirach das sofortige Verbot der Bündischen Jugend war. Zwar liefen viele Bündische mit fliegenden Fahnen zu Hitler über. Darin unterschieden sie sich nicht vom Rest der Bevölkerung. Überproportional viele bündische Führer aber bevölkerten bald die Konzentrationslager. Das half den Nazis wenig – es blieben immer noch genügend Gruppen, die im Untergrund weiterlebten. Und es ist sicher kein Zufall, daß von den Geschwistern Scholl bis zu Graf Stauffenberg und seinem Adjutanten die meisten prominenten Widerständler aus dem bündischen Milieu kamen.
Szenetypische Erscheinungsformen
Die Bündische Jugend war stets eine kulturelle Bewegung von stilbildender Ausstrahlung. Die Äußerlichkeiten, an denen sich Bündische heute erkennen, sagen natürlich nichts über das bündisch Wesenhafte aus. Sie sind sicherlich eher zufällig und oft nur vor ihrem Zeithintergrund zu verstehen. Sie sind jederzeit austauschbar und verändern sich auch heute ständig. Dennoch ist das bündische Milieu von einem spezifisch bündischen Stil geprägt. Dem kann man sich am besten beschreibend und von außen nähern. Man sieht die Bündischen selten, aber wenn man sie sieht, fallen sie auf.
· Bündische treten selten in großen Haufen auf. Ihre Gruppen – Horten genannt – zählen manchmal nur fünf, selten über zehn Mitglieder.
· Sie tragen Kluften, nicht Uniformen, die außerhalb gängiger Moden sind. Meist sogenannte Jujas, Blusen mit Matrosenkragen, je nach Bund bunte Halstücher, Baretts, Lederhosen.
· Sie sind nie auf Campingplätzen und selten in Jugendherbergen anzutreffen. Ihr Zelt ist die Kohte, ein tipiähnliches Feuerzelt aus schwarzem Stoff. Statt auf Luftmatrazen schlafen sie auf Schaffellen, statt aus Plastikbechern trinken sie aus selbstgemachten Gefäßen aus Kokosnüssen oder Bambus.
· Sie singen gern und viel, meist zu Gitarre und Flöte, aber auch zu Balalaika und Banjo. Ihre Lieder werden nicht im Radio gespielt. Sie sind meist in den Gruppen selbst entstanden oder auf Fahrt im Ausland gesammelt worden.
· Sie gehen gern und oft auf Fahrt, ob für ein Wochenende oder mehrere Wochen in den Ferien. Bündische Fahrten sind zwar gut vorbereitet, aber nicht durchorganisiert. Ihren Reiz beziehen sie aus dem Sprung über jene Grenzlinie, die ungeplante Abenteuer von gebuchten Abenteuertrips mit Rückversicherung trennt.
Morgens nicht zu wissen, wo man am Abend schläft, abends nicht zu wissen, wie weit man am nächsten Tag kommt, schafft eine Erlebnisintensität, die sich mit nichts anderem vergleichen kann.
· Sie sind neugierig in jeder Hinsicht, sei es auf neue Kulturen, sei es auf neue Erfahrungen, sei es auf neue Denkweisen. Das weitet den Horizont und verhindert geistige, nationale oder moralische Enge.
· Sie sind nicht monomanisch auf ein Thema fixiert, sondern suchen das Leben in seiner Ganzheit und Fülle und gewürzt durch die Spannung, ob zwischen Natur und Kultur, zwischen Schlemmen und Fasten, zwischen Einfachheit und verfeinertem Leben. Sie wandern, ohne im Wanderverein zu sein, sie klettern, ohne beim Alpenverein zu sein, sie musizieren, ohne im Gesangverein zu sein, sie treiben Sport, ohne im Sportverein zu sein, sie engagieren sich auf Kirchentagen, ohne Gemeindejugend zu sein.
· Sie sind nicht satt, sondern suchen in konsequenter Selbsterziehung und gegenseitiger Erziehung nach weitestgehender Entfaltung ihrer Anlagen zum eigenen Nutzen und zu dem ihrer Mitmenschen.
Das alles hört sich – zugegeben – hochgestochen und arrogant an. Es ist in Wirklichkeit bescheiden, weil es davon ausgeht, daß der Weg zum Ziel sehr weit ist und das Ziel nie erreicht wird. Aber daß man sich auf den Weg machen muß, wenn man seinem Ziel näher kommen will.