Meißnernacht 2009

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„Jedes Jahr ist 1913!“ – Die Meißnernacht zum Thema „Zivilcourage!“

von Christian

Dies ist ein Erlebnisbericht. Mit Erlebnisberichten (und noch mehr mit Erfahrungsberichten) ist es oft so eine Sache. Erstens soll man die dokumentarische Funktion erfüllen, das Wesentliche so wiederzugeben, dass auch diejenigen, die nicht teilgenommen haben, nachvollziehen können, wie, wer und auch was auf dem Ludwigstein „abgegangen“ ist an diesem herrlich verregneten und auch leicht stürmischen Herbstwochenende. Zum anderen aber sollen sich Stimmungen, Meinungen und ähnliches auffinden lassen, die authentisch sind und vor allem auch die Teilnehmer ansprechen und das Nachdenken und Reflektieren anregen. Das, was sonst journalistisch sauber getrennt werden soll, wird hier also explizit vermischt und nebeneinander gestellt.

 

An dieser Stelle gleich eine herzliche Einladung, nicht nur zur Meißnernacht im Oktober 2010, sondern auch zur Mitarbeit an dieser Dokumentation: Detaillierte Beiträge zu dem einen oder anderen Thema sind jederzeit willkommen und werden gern im Burgportal eingestellt.

 

Freitagabend

 

Eine kleine aber nicht verlorene, sondern bunte Schar findet sich nach und nach auf dem Ludwigstein ein, um ein Wochenende lang mutig und ideenreich dem Kern von Zivilcourage näher zu kommen. Gleich vorweg: Wer nicht dabei war, hat etwas verpasst. Ein ebenso bunter, wie auch engagierter Vorbereitungskreis unter Federführung von Stephan und tolu hat im Vorfeld der Meißnernacht nicht nur ein Programm erarbeitet, das hohen Ansprüchen gerecht werden konnte, sondern auch überreichlich für die Verpflegung gesorgt. Für zufriedene Bäuche schon jetzt ein dickes Lob und ein herzlicher Dank vor allem an Caro und Schlumpf!

 

Ein Wermutstropfen war die krankheitsbedingte Absage des jugendbewegten Schriftstellers Daniel Ganzfried aus der Schweiz, der sowohl einen kurzen Vortrag über Zivilcourage halten, als auch als „Mentor“ eigene (jugend)bewegte Schreibversuche von Teilnehmern besprechen wollte. Dies musste nun leider ausfallen – schade, aber nicht zu ändern.

 

So wagen wir eine erste Annäherung an das weite Feld der Zivilcourage über Courageschnipsel. Was sich so unscheinbar anhört, wird unter Anleitung des Psychologen Andreas Barth (Rumpel) zu einem Instrument, das zumindest zwei wichtige Einsichten bringt. Erstens: Die eine richtige Zivilcourage gibt es nicht. Und zweitens: Selbst auf den ersten Blick banale Alltagssituationen können Ausdruck höchster Zivilcourage sein. Noch wichtiger aber: Erste Gesprächsfäden werden geknüpft, alle eingestimmt auf das Wochenende, und einander noch Fremde kommen sich ein wenig näher.

 

Dem folgt – erster  Höhepunkt des Wochenendes – ein Beispiel von größter Zivilcourage  auf dem Gebiet der internationalen Friedensarbeit. Heike Kammer (Milanomi) von den Peace Brigades International (PBI) präsentiert in einem spannenden Vortrag nicht nur die Arbeit ihrer Organisation, sondern stellt vor allem den hohen persönlichen Einsatz aller Friedensarbeiter heraus, die ihr sicheres und friedliches Leben und Wirken in Deutschland eintauschen gegen eine nicht ganz ungefährliche Arbeit, die Menschenrechtler, Oppositionelle und Friedensaktivisten in vielen Ländern der Erde gewaltfrei vor gewaltsamen Übergriffen schützen soll. Sehr beeindruckend sind demzufolge die Schilderungen und Bilder der konkreten Arbeit vor Ort, sei es in Mexiko oder in Guatemala. Und schließlich die Einsicht: Wenn Menschen hier bereit sind, sich gegen Verfolgung und Unterdrückung zu stellen, diese durch ihre Arbeit vor Ort weltweit öffentlich zu machen, ist vielen Einheimischen, die für Freiheit und ein besseres Leben kämpfen, des Öfteren schon ein ganzes Stück weit geholfen.

 

Eine persönliche Anmerkung sei mir hier erlaubt: Die Aktivisten vor Ort (meist gerade auch Frauen) verlangen oft nur Rechte und Freiheiten, die jeder Jugendbewegte mit der Meißnerformel verinnerlicht haben sollte.

 

Samstag

 

Der Absage von Daniel Ganzfried geschuldet beginnt schon der Morgen mit Arbeitsgruppen. Eine Gruppe erprobt – wiederum von Rumpel geleitet – Möglichkeiten, sich der Zivilcourage über Übungen anzunähern. Eine zweite Gruppe beschäftigt sich unter Leitung der Bewegungs- und Tanztheaterpädagogin Birgit Kaiser mit Methoden des Tanztheaters, um Zivilcourage in Bilder zu übertragen. Eine dritte Gruppe übersetzt unter Leitung von Stephan Passagen aus Texten von und über Karl Laabs in kurze Spielszenen. Mehr zu dem Punkt an anderer Stelle.

 

Nachmittags dann ein weiterer Höhepunkt: Die Stadtpfadfinder um David Hünlich, Stammgäste auf der Burg und Überzeugungstäter in Sachen Zivilcourage, fordern dazu auf, selbst aktiv zu werden – und das in Kluft und Wanderstiefeln. Bekanntermaßen verbinden sie pfadfinderische Elemente und Symbole mit einer sehr ernsten Arbeit in Brennpunktvierteln und greifen dabei auch auf moderne, großstadttaugliche Sportarten wie Parkour und Raffball zurück. So haben die Jungs um David einen Mini-Parkour vorbereitet, und es heißt Schwitzen. Treppenlauf, Liegestütze – „25 reichen erstmal…“ Bis zum anschließenden Tischtennisplattenecksprung ist die Gruppe der Aktiven so doch schon merklich zusammengeschmolzen. Schlussendlich landet Stephan beim Proberaffball im Zeltplatzmatsch – große Klasse und großer Spaß für alle.

 

David und Yunuz erläutern die Zusammenhänge im Zeichen ethnisch und religiös hoch differenzierter Nachbarschaften mit ihren vielfältigen Spannungen. Bei einem kleinen Rollenspiel schlüpfen wir jeweils in die Haut eines Jungen bzw. eines Mädchens aus der Gruppe, studieren die Biographie, versuchen, der übrigen Gruppe unsere kulturellen, sozialen, religiösen und privaten Probleme und Konflikte als Stadtpfadfinder darzustellen. Oft beherrscht die Betroffenheit den Rittersaal. Auch, als wir erfahren, dass die Arbeit der Stadtpfadfinder dem argwöhnischen Blick anderer, etablierter Organisationen ausgesetzt ist, die sich sozial für Jugendliche einsetzen.

 

Für uns ist die Initiative von David auf jeden Fall als ein großes und aus dem jugendbewegten Zusammenhang hervorgegangenes Beispiel für Zivilcourage innerhalb Deutschlands mindestens so bedeutend, wie die am Vorabend vorgestellte internationale Arbeit der PBI.

 

Jedes Jahr ist 1913…

 

Es stürmt, es regnet wie aus Kübeln, es ist kalt und neblig und eine unglaublich dunkle Nacht. Fackeln sorgen für dämmeriges Licht an der Hausener Hute, und Gottfried Paasche spricht zu uns. Der in Kanada lebende Enkel von Hans Paasche, gerade in Deutschland weilend, lässt es sich nicht nehmen, uns auf dem Ludwigstein zu besuchen und uns Mut zu machen für den Weg durch die Nacht – und ebenso eine Verbindung zu schaffen zu den Tagen im Oktober 1913, zu den Meißnerfahrern von damals, zu seinem Großvater – gipfelnd in dem Ausruf: »Jedes Jahr ist 1913!« Weiterer Worte bedarf es eigentlich nicht mehr, um den Weg aufzuzeigen, den Jugendbewegung heute gehen kann und gehen sollte.

 

Trotzdem möchte ich diese Schlüsselworte in ihrer Bedeutung hier etwas genauer beleuchten. Die Wendung »jedes Jahr« macht zum einen deutlich, dass sich der jugendbewegte Anspruch, wie er sich aus der Meißnerformel ergibt, kaum in Einzelaspekten bewerten oder an einzelnen Aktionen festmachen lässt, sondern nur im und am fortwährend gelebten Bemühen um innere Freiheit in eigener Verantwortung. Hans Paasche lebte seinen Einsatz für Frieden und Humanität bis zur letzten, weil tödlichen Konsequenz.
„Jedes Jahr“ bedeutet aber auch: Wo Vorbilder nichts mehr bewirken, wo sie also ihre »innere« Funktion verlieren, verlieren sie ihre Geltung und werden zu rein musealen Denkmälern.
Das Wörtchen „ist“ verleiht dem Ausruf von Gottfried seinen – semantischen – Schwung. Hier wird kein Sollzustand festgelegt, kein Wunsch ausgesprochen, kein Anspruch normiert, sondern eine Bild aus der wünschenswerten Zukunft in die Gegenwart projiziert und im hier und jetzt verankert. Eine ganz ähnliche Idee liegt ja auch der Burg als lebendigem Ehrenmal zugrunde.
Schließlich das Jahr – »1913«: Aufbruch, Neuanfang, Ortsbestimmung, Selbstbestimmung, »hohes« Fest; auf dem Meißner, dort, wo sich die zur Bewegung im sozialen und humanen Sinn gewordene deutsche Jugend bewusst verortet hatte. Zivilcourage war damit verbunden, in der verkrusteten wilhelminischen Gesellschaft neue Wege einzufordern – gegen den Strom, was viele Jugendbewegte jener Zeit (insbesondere Mädchen und junge Frauen) schon in ihrem familiären Umfeld zu spüren bekamen. Auch da, wo die Jugendbewegung nicht international sondern national gesinnt, wo Mitbestimmung und –gestaltung im Sinn einer modernen Demokratie noch nicht deutsche Selbstverständlichkeit geworden war, sondern kaisertreue Gesinnung vorherrschte, setzte die bewegte Jugend innere Freiheit in eigener Verantwortung – mithin nichts weniger als Elemente der Aufklärung – an die erste Stelle.
Mit dem Ausruf: „Jedes Jahr ist 1913!“, erinnert Gottfried aber schließlich auch an das Telegramm, mit dem die Jugendbewegung wenige Tage vor Kriegsausbruch an den Kaiser appelliert hatte, „die Jugend der ganzen Welt vor dem entsetzlichen Unglück eines Krieges“ zu schützen. War das dann genug der Zivilcourage? Hätte aus 1913 folgen müssen, dass mehr Jugendliche den Weg eines Hans Paasche einschlagen, anstatt ihren Mut auf die Schlachtfelder zu tragen? Jedes Jahr ist 1913!?

 

In solchem Geist und mit solchen Gedanken entlässt uns Gottfried in die Nacht.

 

Die Meißnernacht

 

Wir Nachtwanderer haben Glück – zumindest mit dem Wetter. Hatte nach der Eröffnungsrunde im strömenden Regen wohl jeder Dauerregen während der ganzen Nacht erwartet, so wird es zwar eine feuchte und matschige, aber nicht durchnässte Angelegenheit. Auch können neue Gesichter in der Runde begrüßt werden: Eine junge Pfadfindergruppe aus dem nahe gelegenen Bad Sooden-Allendorf schließt sich uns an, um die Nacht mit uns zu durchwandern, während sich andere – in Anbetracht ihres unzureichenden Schuhwerks – der Herausforderung doch lieber nicht stellen. Auch hier Dank an Caro für den Rücktransport von Gottfried und den Kurzentschlossenen in die schützenden Burgmauern.

 

Der Rest ist schnell erzählt: Erstens der übliche Umweg (nein, nein wer wird das denn gleich „Verlaufen“ nennen), zweitens eine behagliche Rast in einer – für 25 Leute – gemütlich engen Schutzhütte und drittens eine szenische Darstellung: Aus Texten über Karl Laabs (Alt-Ludwigsteiner, schwierige Persönlichkeit im Privaten und »Gerechter unter den Völkern«) werden zwei kleine Stücke gespielt, die dessen großes Bemühen um die Rettung von jüdischen Mitmenschen aus dem Umfeld des Konzentrationslagers Auschwitz aufzeigen. Auffällig danach: Schweigen, Nachdenken und eigentümliche Konzentration auf sich selbst.

 

Morgens um 3 Uhr: Ankunft auf der Burg. Kerzen im Torbogen, Wärme, Besinnlichkeit während der kleinen Nachtfeier im Gedenkraum, Kekse und Tschai im Rittersaal – Dank an die fleißigen Helfer um Caro – und schließlich noch ein paar ruhige und interessante Gespräche. Dann erholsamer Schlaf.

 

Sonntag

 

Der Sonntag steht ganz im Zeichen von Gottfrieds Bericht (Vortrag möchte er es nicht nennen) über seine Recherchen zu Hans Paasche im allgemeinen und zum Leben in einer Familie mit einem Vorfahren, der für ein Leben und Wirken im Sinne der Meißnerformel mit dem Leben bezahlt hat, im besonderen. Erneut verändert sich die Zusammensetzung des Teilnehmerkreises. So wie schon zur Nachtwanderung neue Teilnehmer dazu gestoßen sind, können auch am Sonntag neue Mitdenker begrüßt werden, darunter die beiden Professoren Jürgen Reulecke und Barbara Stambolis aus dem Archivbeirat, die sich rege am Austausch beteiligen, sowie drei Jugendliche aus Witzenhausen, die am deutsch-polnisch-tansanischen Austauschprojekt der Jugendbildungsstätte, „Der dreizehnte Brief“ mitwirken und schon am Transfer der neuen Paaschelinde von Hans Paasches jetzt in Polen liegendem Gut Waldfrieden auf den Ludwigstein beteiligt waren.

 

Ein Stenogramm oder eine inhaltliche detaillierte Rückschau kann und soll an dieser Stelle nicht erfolgen – ich möchte aber durchaus noch einmal dazu ermuntern.

 

Für mich bleiben zwei prägnante Momente wirksam: erstens die  Leichtigkeit und der Humor mit dem Gottfried über die Familiengeschichte berichtet und zweitens die unschätzbar wertvolle historische Detailarbeit, die hinter diesem kurzweiligen Bericht steht. In allem durch und durch subjektiv – aber eben doch beruhend auf Fakten und authentischen Berichten.

 

Der letzte Augenblick

 

Wie immer verflüchtigen sich die Meißnerfahrer am Sonntag schneller als gedacht. Dank an dieser Stelle an alle freiwilligen späten Aufräumer, von denen einige dann noch bis zum Abend bei Stephan zusammensitzen sollen, um das Erlebte zu verarbeiten.

 

In der Schlussrunde machen viele von der Möglichkeit Gebrauch, ihre Eindrücke zu äußern und Ideen für das kommende Jahr vorzutragen. Schließlich: herzliche Umarmungen und ein neuer Aufbruch…

 

…bis zum nächsten Mal auf der Burg der Jugendbewegung!

 

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Einige Bilder vom Wochenende finden sich auf den Seiten der Ludwigstein


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