Von Thies
„In der Natur findet man zu sich selbst“ (Henry David Thoreau)
Als Henry D. Thoreau im Jahre 1854 „Walden“ schreibt, da gibt es weder Blog noch Internet. Manager mit „Burn-Out“ sind ebenso unbekannt und der weltweite CO²-Ausstoß gilt noch nicht als Gradmesser des Klimawandels. Auf dem Markt von Concord gibt es auch sicherlich noch keine absurd günstigen Kleidungsstücke und Lebensmittel. Doch trotzdem spürt Thoreau schon damals das Gefühl des Ungleichgewichts zwischen Gesellschaft und Umwelt. Er wendet sich dem Wald zu und sucht nach einer anderen Lebensform. Er baut eine Hütte an einem See, umgeben von Natur. Er steigt aus.
Seit jenem Pionier des Aussteigertums haben zahllose andere Personen die Hauptschlagadern der Gesellschaft aus unterschiedlichsten Gründen verlassen. So vielfältig wie die Probleme und Gründe für den Ausstieg sind die Wünsche und Ziele am neuen Ort der Bestimmung. Während einige in der Ferne eine neue Weltordnung schaffen wollen begnügen sich andere mit weitaus pragmatischeren Idealen. In dem Buch „Leben in der Wildnis“ ist Éric Valli einigen der Personen nachgegangen, die in Nordamerika ausgestiegen sind, um ein verantwortungsvolleres Leben in der Natur zu führen. So folgen sie Thoreaus Spuren.
Der Autor trifft auf Personen, die in erster Linie frei, bewußt und verantwortlich leben wollen. Fern von „Börsencrashs“ schaffen sie ihre eigene Realität – ein Leben in der Wildnis mit einer minimalen Menge an Kontakten mit der Massengesellschaft. So trifft der Autor beispielsweise auf die Waldläuferin Lynx. Diese Frau lebt halbnomadisch in einer Jurte in den Bergen der Rocky Mountains und pflegt einen steinzeitlichen Lebensstil. Bekleidet nur mit ledernen Kleidungsstücken, lediglich mit Hornnadeln vernäht, streift sie durch Berge und Wälder. Wenige Schüler dürfen in jedem Jahr von ihrem enormen Wissen von Arbeitstechniken sowie Flora und Fauna profitieren. Als kleiner Clan leben sie und die Schüler als Jäger und Sammler wie vor Tausenden von Jahren. Lynx ist eine romantische Rebellin, die den engen Kontakt zur Natur sucht. Nie ist ein Kontakt so eng, wie dieser ganz ohne die technischen Hilfsmittel der Neuzeit.
Andere Aussteiger leben pragmatischer. Der modere Trapper John lebt seit rund 15 Jahren in den Sümpfen Floridas. Dort wo sonst keiner hinkommen möchte, hat er sich eine Fischerhütte auf Stelzen gebaut. An sein voriges Leben als Finanzmanager voller Reichtum und Privilegien erinnern nur noch die vielen Krawatten, aus denen er den Sitz eines Stuhles geflochten hat. Für ihn ist der Sumpf der Ort, an dem er in völliger Einsamkeit leben kann und in der Nähe seiner geliebten Natur sein darf. Schon lange bevor er die Hütte im Sumpf bezog, hatte er sich auf diesen Schritt vorbereitet. Jahrelang besuchte er Überlebenskurse und durchstreifte dünnbesiedelte Regionen auf der Suche nach dem perfekten Rückzugsort. Nach zehn Jahren dieses Doppellebens kündigt er seinem sprachlosen Chef und überläßt seinen Besitz seiner Frau, die er ebenfalls zurückläßt. Heute lebt er abgeschieden mit nur wenig Geld primär von dem, das rund um sein kleines Heim wächst und gedeiht. Alle weiteren „Luxusgegenstände“ wie z.B. Kaffee bezieht er von umliegenden Müllkippen. Er ist restlos zufrieden mit seinem neuen solitären Leben in Bescheidenheit.
Trotz der sehr vielfältigen Lebensentwürfe eint all die vorgestellten Personen und Familien der Wunsch nach einem verantwortlicheren Leben mit einem stärkeren Bewußtsein für die Konsequenzen unserer Handlungen, die in unserer spezialisierten und komplexen Welt immer stärker verwischen. Diese Aussteiger fühlen das gleiche Ungleichgewicht, daß schon Thoreau bemerkte. Der Autor ist selber sichtlich beeindruckt und versteht es meisterhaft, die Gefühlen und Eindrücke der Aussteiger sowohl in Text als auch in den vielen beeindruckenden Bildern festzuhalten. Ein Buch also, daß uns sehr plastisch zu den Menschen führt, die so viel konsequenter sind, als wir es manchmal von uns selber wünschen würden.
Doch ist diese enorme Konsequenz überhaupt sinnvoll? Ohne Frage: Wir alle können nicht als Steinzeitmenschen mit Pfeil und Bogen in den Rocky Mountains leben! Doch das ist auch nicht Anspruch dieser Aussteiger, die vor allem ihren individuellen Lebensweg frei gestalten wollen. Ihre Radikalität und Konsequenz zeigt, daß ein glückliches und erfülltes Leben auch ohne Konsum und Luxusartikel möglich ist. Ihr Beispiel ermutigt uns, den radikalen Ausstieg selber einmal zu durchdenken. Wie würde mein Ausstieg aussehen? Ein Traum, der für jeden so unterschiedlich ausfallen muß wie die gelebten Träume der vorgestellten Aussteiger.
Nachtrag:
Informationen zum Buch finden sich u.a. auf der Seite des Autors.
Weiterlesen über den Autor kann man hier.
Die Bilder stammen von Eric Valli