Mainzer Gildentag: Wir pfeifen auf den ganzen Schwindel!

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von Isa

Freitagabend, Taunus. Stille liegt über der Landschaft, hier, am Ende eines kleinen Dorfes, direkt am Waldrand; die Art von Stille, die wie eine Heimkehr ist, wenn man den Lärm der Großstadt gewöhnt ist. Eine Heimkehr aufs Land, zu sich selbst, zu Freunden. Gleichzeitig ist es angenehm kühl nach der Sommerhitze zwischen Pflastersteinen und Beton.
Ein lauer Sommerabend, freundliche Gesichter, ein brennender Grill, gemeinsames Abendessen: schön, sich wiederzusehen oder sich kennenzulernen; Streß, Hektik und Spannung fallen ab. Ein Wochenende Kraft sammeln für den neuerlichen Alltag!

Nach dem Essen: Lieder am Feuer, diesmal ganz pragmatisch am umfunktionierten Grill. Ein Feuer auf Augenhöhe – aber das tut der Stimmung keinen Abbruch. Ein paar Nachzügler kommen noch, werden freudig begrüßt – dann singen wir bis zum Morgengrauen, leben die Klänge mit, gehen in den Liedern auf und spüren unsere Verbundenheit.

Auch der Samstag beginnt fröhlich und entspannt, für Freiwillige mit Yoga-Versuchen, dann beim gemeinsamen Frühstück. Am Waldrand singt eine Singdrossel den charakteristischen, abwechslungsreichen Gesang ihrer Art, mit zahlreichen eingestreuten, nachgeahmten Lauten anderer Vögel, während der winterlichen Zugzeit im Süden ins Repertoire aufgenommen. Mit ein wenig Augenzwinkern ein geradezu jugendbewegter Vogel – ihr Gesang wird uns das ganze Wochenende über begleiten.
Anschließend steht eine Wanderung zu einer nahegelegenen Burg auf dem Programm. Noch ist es kühl, aber die kommende Tageshitze schimmert schon durch die Kühle hindurch, und am Himmel steht eine erste Gewitterwolke. Jedoch verziehen sich bald alle Wolken, es wird ein sonniger, heißer Tag, der sich in die Gesichter regelrecht einbrennt. Die Wanderung zieht sich länger hin als geplant und wirft das Abendprogramm durcheinander. Dennoch kommt keine Hektik auf, es wird gelebt, wie es eben kommt – so eine entspannte Stimmung würde man sich immer wünschen!

Beim Kaffeetrinken kommen Diskussionen auf, die deutlich verschiedene Standpunkte zu vielen Fragen offenbaren. Einige diskutieren noch weiter, während sich die anderen an die Vorbereitung des bunten Abends machen: letzte Abläufe müssen besprochen, das Essen geschnippelt und zubereitet, Raum und Feuerstoß hergerichtet werden. Bald sind alle eingebunden und beschäftigt. Und wir stellen einen „Beinahe-Rekord“ auf: als wir mit dem Essen beginnen, ist es bereits 22 Uhr. Das hatte bisher nur der letzte Hamburger Gildentag übertroffen, mit einem Beginn des bunten Abends erst um halb elf…
Nichtsdestotrotz, das Essen schmeckt, wir sind festlich gekleidet und freuen uns auf den Abend.

Nach dem Essen gehen wir schweigend im Fackellicht über das Gelände zum Feuerstoß. Solche Wege, in Stille gegangen, weisen die Grenze zwischen der „normalen“ Welt und einer anderen, die vom brennenden Feuer geprägt wird, ziehen Gedanken an, konzentrieren sie, und bereiten vor. Ob man sich ohne diese Wege wohl dem Feuer, dem Fliegen der Funken, den in den Flammen verborgenen Bildern genauso öffnen könnte? Wohl kaum… Nacheinander ziehen wir im Kreis um das Feuer ein, bleiben stehen. Ein erstes Lied klingt in die Nacht, der Stoß wird entzündet, wir hören das Knistern der auflodernden Flammen. Gedichte stimmen uns auf die Stunden am Feuer ein. Das ist sie, die andere Welt, in die wir jetzt eingetaucht sind. Drei neue Mitglieder werden in die Mainzer Gilde aufgenommen. Jetzt noch tanzen? Nein, das Feuer wirkt zu stark, verzaubert die Welt, es paßt nicht mehr, ins Kunstlicht zurückzukehren. Wir folgen unseren Stimmungen, bleiben in der vom Feuer geschaffenen, anderen Welt, die Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit verbindet und in ein einziges Dasein münden läßt. Immer mehr Lieder klingen auf, weben ein Band zwischen uns, der Nacht, dem Feuer und dem Land. Wieder singen wir bis zum Morgengrauen, von einzelnen Gesprächen unterbrochen. Trotzdem sind wir am nächsten Morgen nicht erschöpft oder vollkommen übernächtigt.

Was am Sonntag nach der Morgenrunde folgt, ist wohl der Höhepunkt des Wochenendes: Herbert „Berry“ Westenburger, Autor des Buches „Wir pfeifen auf den ganzen Schwindel – Versuche jugendlicher Selbstbestimmung“, ist für eine Lesung eingeladen.

Das Wetter bleibt weiterhin traumhaft schön, so daß wir die Lesung vom Innenraum auf die Terrasse verlegen, die glücklicherweise im Schatten liegt. Zur Begrüßung singen wir „Die Gedanken sind frei“, dann hören wir gespannt zu, was Berry uns aus seiner Jugend vor und im Nationalsozialismus erzählt: über die Schwierigkeiten, bündisches Leben unter staatlicher Verfolgung aufrechtzuerhalten, und über die Probleme, vor die die Menschen damals generell gestellt waren. Eindrücklich schildert er uns Treffen an möglichst abgelegenen Orten, die Angst vor Entdeckung und Denunziation, und unsere Sympathie fliegt den damaligen Bündischen zu, die Berry vor unseren Augen wiederaufleben läßt: in ihren abgelegenen Hütten, in privaten Wohnungen und Hinterzimmern.
Berry erwähnt, der Staat habe damals einzelne Gruppen für elitäre Geheimorganisationen, gut geschult und brandgefährlich, gehalten – dabei waren sie doch nur um die 50 Personen, die einfach nur ihre Eigenarten, ihr bündisches Leben und Singen ausleben wollten. Wie gut kennen auch wir eine solche Einschätzung, wenn auch nicht durch staatliche Organe, so doch durch eine Zivilgesellschaft, die den Wert von Meinungsfreiheit und Toleranz zusehends mehr vergißt.

Dann spricht Berry von Denunziation, von Verhören, Folter, seinem Einzug als Soldat, vom Tod seiner Mutter in Auschwitz, ebenfalls aufgrund von Denunziation. Von Versuchen, bündische Kontakte trotz allem aufrechtzuerhalten, von Kriegsgefangenschaft, Ausbruchsversuchen – und von Heimkehr. Berry wird eine Stelle beim „Criminal Investigation Department“ angeboten, bei der er Nationalsozialisten und Schwarzhändler hätte aufspüren und melden sollen. Das aber war nichts für ihn. „Von Denunziation wollte ich ein für allemal nichts mehr wissen“, sagt er uns. Trotz seiner Geschichte und der seiner Familie, mit Verfolgung, Tod seiner Mutter und Verwehrung von Zukunftschancen, die die Ausführung einer solchen Aufgabe verständlich gemacht hätte, gibt er ein Beispiel für eine aufrechte, ehrliche Haltung – und entspricht einmal mehr unserem Bild von ihm als wahrhaftem, bündischem Urgestein. Dankbar für diesen lebendigen Vortrag singen wir „Schließ Aug’ und Ohr“, und viele lassen sich die Gelegenheit nicht entgehen, ein Exemplar seines Buches zu erwerben und signieren zu lassen.
Nach dem Abschlußkreis liegt ein rundum gelungenes Wochenende hinter uns.

Wir pfeifen auf den ganzen Schwindel – und sehen uns wieder!


Willkommen , heute ist Dienstag, 3. Dezember 2024