Balduinstein – Jenseits der Mauer

burg-balduinvon Isa

Am letzten Märzwochenende fand auf Burg Balduinstein ein Seminar statt: bündische kontra extremistische Gruppen, titelte die Einladung. Ohne Fragezeichen, bereits auf sprachlicher Ebene im Vorfeld klar: das Urteil ist gesprochen, die thematisierten Bünde als „extremistisch“ abgestempelt. Der Einladung folgte eine Ausladung: Mitgliedern des Freibund wird die Teilnahme verweigert und ihnen damit die Möglichkeit genommen, Vorwürfe zu erklären oder zu entkräften. Mir wird nach kurzem Zögern am Telefon die Teilnahme gestattet.

Dass es nicht leicht werden würde, dieses Wochenende, dessen war ich mir durchaus bewusst gewesen. Aber ich zweifle noch nicht daran, dass sich das eine oder andere gute Gespräch schon ergeben wird – schließlich habe ich schon oft mit anderen, unabhängig von der politischen Ausrichtung, zusammen gesessen, diskutiert und gesungen. Auf das Ausmaß dessen, was mich erwartet, bin ich nicht vorbereitet.

Am ersten Abend ist die Atmosphäre noch weitgehend entspannt, man sitzt zusammen, singt gemeinsam dieselben Lieder. Dass ich aus der Gildenschaft komme, spielt noch keine Rolle, ist noch nicht allgemein bekannt. Der Samstag wird lang werden: etwa zwölf Stunden Dauerinformation mit Film, dann Beiträgen von Jesko Wrede und Maik Baumgärtner.

Am Anfang steht ein Film von Michael Schomers über seine Zeit undercover bei den Republikanern in den 90er Jahren. Einige Anwesende fragen sich: was hat das mit den Bünden zu tun, und was mit dem Heute?

Bald wird klar, wieso der Film gezeigt wird: er entfaltet effektiv seine psychologische Wirkung als Einleitung, indem er in Bildform in eine Parallelwelt von Hinterzimmern eintauchen lässt, in der ein erschreckendes Stichwort, ein einschlägig bekannter Name nach dem anderen fällt, durcheinandergewirbelt wird mit Schlagworten, die einen NS-Kontext herstellen. Vor allem bereitet der Film darauf vor, hinter allen Äußerungen nur noch „Chiffren“ zu sehen, Chiffren für platten Rassismus, Antisemitismus und Gewaltbereitschaft. Das Muster, grundsätzliche Unehrlichkeit anzunehmen, wird von den Republikanern trotz grundlegender Unterschiedlichkeit auf die Bünde übertragen. Auch bei meinen Äußerungen wird mir später ein ständiger, unüberwindbarer Zweifel entgegenschlagen: man glaubt mir nicht, bewertet alles als reines Taktieren. Es wird gar nicht mehr in Betracht gezogen, dass Äußerungen so fallen können, wie sie gemeint sind: ohne irgendeinen Hintergedanken.
Nach dem Film folgt eine Vorstellungsrunde, jetzt weiß man: Isa, Deutsche Gildenschaft – ein Teil des Feindbilds.

Es schließt sich Maiks und Jeskos Vortrag an, der bis abends um 23 Uhr fortgesetzt wird. Interessanterweise distanziert sich Maik – der keinen bündischen Hintergrund hat – gleich zu Anfang von Teilen seiner publizistischen Arbeit, nämlich von Beiträgen in der vom Verfassungsschutz als linksextremistisch eingestuften, marxistisch ausgerichteten jungen Welt. Nimmt damit also selbst in Anspruch, eine persönliche Reifung hin zu demokratischer Überzeugung durchgemacht zu haben, die er den Objekten seines Interesses – fünf beobachteten Bünden und zahlreichen Einzelpersonen – nicht zugesteht. Wölfe im Schafspelz? Wenn ja: warum nicht er?

Gegliedert wird der Vortrag durch eine Abfolge thematisierter Bünde: zuerst kommt die Sprache auf den Freibund, es folgen Sturmvogel, Deutsche Gildenschaft, Fahrende Gesellen und Deutscher Mädelwanderbund.

Dabei sind folgende Methoden unterscheidbar:

1. „name dropping“:
Der Vortrag besteht im Wesentlichen aus der Nennung von Namen und Organisationen in schneller Folge, jeweils verbunden mit negativ konnotierten Schlagwörtern, Stigmawörtern. Die Abfolge ist so rasch, dass ein kritisches Mitdenken nicht möglich ist und der Hörer gezwungen wird, die Interpretation der Vortragenden zu übernehmen.

2. Kollektivierung von politischen Haltungen einzelner:

a) Übertragung auf gesamte Familien: war ein Mitglied einer Familie, sei es ein Elternteil, der Großvater oder auch ein Onkel, einschlägig politisch aktiv, wird dessen politische Ausrichtung auf den gesamten Familienzusammenhang übertragen. Stammt ein heute in einem Bund Aktiver aus einer solchen Familie, wird ihm automatisch die radikalste in seiner Familie vorkommende Haltung zugeordnet. Ist es denn so unvorstellbar, dass sich Ansichten von Mitgliedern einer Familie deutlich selbst dann unterscheiden können, wenn ein ähnlicher Lebensstil gepflegt wird? Ist es mit einer demokratischen Haltung vereinbar, von Menschen eine Distanzierung von ihrer Familie zu erwarten oder gar zu verlangen? Glaubte man solche Zeiten nicht längst überwunden?

b) Übertragung auf andere Veranstaltungsteilnehmer:
Hat man eine Veranstaltung besucht, auf der einzelne extreme Personen anwesend waren, wird unterstellt, man habe automatisch dieselbe Haltung bewiesen. Warum nun aber nur bei einer Veranstaltung, die sozusagen „ins Konzept“ passt? Habe ich z.B., wenn ich eine Demonstration besuche, auf der sich ein linksextremer Schwarzer Block formiert, automatisch eine militante linksextreme Einstellung?
Darüber hinaus wird nicht berücksichtigt, dass es verschiedene Motivationen gibt, eine Veranstaltung zu besuchen, etwa den Aspekt der Neugier – gerade bei jungen Menschen – dem keine Wiederholung folgt.

3. Fehlender Kontext:
Zitate aus schriftlichen Ausführungen werden fast durchgängig als bloße Einzelsätze ohne Kontextbezug herausgestellt und in einen neuen Sinnzusammenhang gesetzt, einen Sinnzusammenhang, der beim Autor ganz anders gewesen sein kann. Die Möglichkeit, nachzuprüfen, besteht nicht.

4. Festgelegte Fokussierung verändert die Realität zu einem Zerrbild:
Die betroffenen Bünde und Einzelpersonen werden grundsätzlich nur unter dem Aspekt beleuchtet, Belege für eine mindestens rechtsgerichtete, besser noch -radikale oder -extreme Haltung zu finden. Dabei wird alles ausgeblendet, was nicht in dieses von vornherein festgesetzte Bild passt. Die Vielfalt anderer besuchter Veranstaltungen, anderer geäußerter Gedanken, anderer Schriftstücke wird überhaupt nicht beachtet, ausgeblendet, als habe es sie nie gegeben, und das Zerrbild für die reine Wirklichkeit ausgegeben.

5. Vergangenheit als Beweis für die Gegenwart:
Auffallend ist, dass bei den präsentierten Fakten kaum Belege für den Zeitraum ab 2000 oder gar aus den letzten Jahren zu finden sind, die Haltung der Bünde heute wird hauptsächlich nach weit zurückliegenden Aktivitäten beurteilt. Darüber hinaus gibt es an keiner Stelle einen Beleg für eine feindliche oder diskriminierende Handlung durch Mitglieder der thematisierten Bünde auf überbündischen Veranstaltungen, was ja eine durchaus gerechtfertigte und notwendige Kritik darstellen würde.

Ein Verbund dieser Elemente bewirkt die Konstruktion einer falschen Realität, in der es unvorstellbar wird, dass für Mitglieder der betroffenen Bünde eine Haltung grundsätzlichen Respekts vor dem jeweiligen Gegenüber als Mensch gilt, unabhängig von Herkunft oder politischer Ausrichtung.

Am Nachmittag haben sich die präsentierten Informationen auf eine Weise verdichtet, dass selbst in meinem Kopf dasselbe Schwarz-Weiß-Bild entsteht: alles vermischt sich zu einem einzigen braunen Sumpf, gleichförmig, umfassend und gefährlich. Obwohl ich das Leben innerhalb meines Bundes in seiner ganzen Vielschichtigkeit kenne, obwohl ich als Gast bei anderen thematisierten Bünden keineswegs einen solchen Eindruck erhalten hatte, obwohl ich auch über mich selbst weiß, dass meine Realität, mein Leben anders aussieht. Es bleibt kaum eine Möglichkeit, sich den eingehämmerten Bildern zu entziehen. Ich bekomme eine Ahnung davon, wie schwer es in anderen, vergangenen Systemen gewesen sein muss, die tägliche Propaganda unverändert zu überstehen, fühle mich erschöpft und leer, fast schuldig – ein Hauch von Andorra…

Auch insgesamt verändert sich die Atmosphäre, die Spannung steigt merklich an, mir gegenüber zieht allmählich Feindseligkeit auf. Eine unsichtbare Grenze entsteht. Blicke folgen mir – oder bilde ich es mir nur ein? Ich kann nicht unterscheiden, wie viel von dieser Stimmung in mir selbst erzeugt wird, und wie viel andere dazu beitragen. Je weiter der Tag fortschreitet, desto intensiver wird die Wahrnehmung zweier Räume, ich hier, die anderen dort. In der Abschlussdiskussion kommt es bei Einzelnen zu offener, ungehemmter verbaler Aggression.

Am Abend erlebe ich das erste Mal eine Singerunde als quälende Belastungsprobe. Wenigstens eine Zeitlang durchhalten… unter den ersten Liedern ist eines, in dem es u.a. heißt:
„Volkstreue Küchenschaben, die sich
am Dasein andrer laben.“

Blicke treffen mich, ich weiß: dieses Lied, dessen Text in der Runde verteilt wurde, wird gegen mich gesungen, ich werde als Feind wahrgenommen. In der Schule habe ich gelernt, es sei eine faschistische Methode, Menschen als Ungeziefer zu bezeichnen…
Die unsichtbare Grenze zwischen mir und den anderen wird zur Mauer. Später folgt „Deutschland wir weben dein Leichentuch“, nach Heinrich Heines Gedicht „Die schlesischen Weber“. Ich kenne Text und Melodie. Hier jedoch ist es mir unmöglich geworden, mitzusingen. Wenn wir dieses Lied singen, haben wir bestimmte Zustände vor Augen, die dort thematisiert werden. Heine hatte ja nicht Deutschland als Ganzes im Blick, als er sein Gedicht schrieb, sondern bestimmte, untragbare Verhältnisse von menschlicher Ausbeutung und Perspektivlosigkeit. Hier aber richtet sich das Lied nicht mehr auf bestimmte Zustände, sondern gegen das, was Deutschland als Heimat ausmacht, und damit auch gegen etwas, das für mich Wert und Bedeutung hat. Die anderen hier, ich jenseits der Mauer… ich ertrage die feindselige Stimmung nicht länger und verlasse den Raum. Die Singerunde setzt sich fort, in der Nacht dröhnen „Auf auf zum Kampf“ („Dem Karl Liebknecht, dem haben wir’s geschworen, der Rosa Luxemburg reichen wir die Hand. „) und das „Arbeitereinheitsfrontlied“ durch die Wände: politischer Triumph.

Am Sonntag wird die unsichtbare Mauer zu einer sichtbaren, teils wird mein Morgengruß nicht mehr erwidert. Beim Frühstück bleiben die Plätze neben mir leer.

Die Fortführung der Veranstaltung beinhaltet den Entschluss, nun Strategiegespräche zu führen. Der Antrag wird gestellt, mich vom weiteren Verlauf auszuschließen. Schweigen. Ich bitte um ein letztes Wort, das mir gewährt wird, und lese das Gedicht: „Links rechts links rechts“ von Erich Fried.

„Wenn ein Linker denkt
dass ein Linker
bloß weil er links ist
besser ist als ein Rechter
dann ist er so selbstgerecht
dass er schon wieder rechts ist (…)“

Dann gehe ich. Zunächst: froh, durchgehalten zu haben, erleichtert, dieser Stimmung entronnen zu sein. Zu Hause angekommen, packt mich die Erschöpfung, ich fühle mich erschlagen und leer, ein Gefühl, das erst nach Tagen wieder weicht. Ich schreibe an einen Freund, etwas in mir sei endgültig zerbrochen: Vertrauen darin, dass diese Gesellschaft die Ideale von Demokratie und Meinungsfreiheit einhält, einhalten will, die ich als Schülerin verinnerlicht habe. Am meisten erschreckt mich die ungeheure Energie, die daran gesetzt wird, Zerrbilder der Realität zu erstellen über Personen, die nichts getan haben außer zu existieren. Zum ersten Mal begreife ich, dass ich mit meiner Haltung trotz grundlegender, tiefer demokratischer Überzeugung Ziel eines umfassenden feindlichen, politisch motivierten Willens werde.

Was bleibt, ist die Trauer darüber, dass trotz erheblicher Schnittmengen in der Lebenshaltung und selbst in den Auffassungen eine Verhärtung des Umgangs miteinander stattfindet, dass Wegsperren aufgebaut und Stacheldrähte gezogen werden, weiter an Mauern gebaut wird. Trauer auch deshalb, weil jenseits alles Politischen rein menschliche Sympathien durchaus vorhanden sind oder sein könnten, würden sie nicht durch Ideologisierung blockiert.

Aber es bleibt auch die Hoffnung, dass sich – trotz allem – bereits gezogene Grenzen erneut überwinden lassen: Wir haben Eure Feindschaft nicht gesucht und nicht gewollt.

(Vorveröffentlichung aus Idee & Bewegung)


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