von bjo:rn
Vor nunmehr 80 Jahren veröffentlichte Kurt Tucholsky sein kommentiertes Bilderbuch „Deutschland, Deutschland über alles“. Darin ging er mit den nationalistischen Tendenzen seiner Zeit, deren Hurrapatriotismus schon die Jugendbewegten von 1913 auf den Hohen Meißner trieb, hart ins Gericht und stellte sich dem kritikmüden Geist der „Goldenen Zwanziger“ entgegen. Im gleichen Jahr wanderte Tucholsky nach Schweden aus, wo er sechs Jahre später, die Lebenstreppe bestiegen, durch eigene Hand aus dem Leben schied. 45 Jahre zuvor war er ins zur Metropole „reifende“ Berlin hineingeboren worden, wo er sich mit seinen vier Pseudonymen schon früh schriftstellerisch betätigte.
Mit dem ebenfalls portraitierten Joachim Fernau hat er, allen gegensätzlichen Standpunkten trotzend, auffällig viel gemeinsam. Fernau und Tucholsky mußten den frühen Tod ihrer Väter hinnehmen. Ihr Studium in Berlin vernachlässigten beide zugunsten der Schreiberei. Aus beiden wurden nicht zuletzt deshalb scharfzüngige Kritiker des jeweils vorherrschenden Zeitgeistes. Ihre gleichnamigen Werke „Deutschland, Deutschland über alles“ trugen das Ihre dazu bei. Den Militärdienst absolvierten sowohl Fernau als auch Tucholsky als Berichterstatter mit der Feder statt mit der Waffe. Ihr kritischer Idealismus führte beide zum Entschluß, außerhalb Deutschlands zu leben und zu arbeiten. Letztlich starben beide fern der geliebten Heimat, der sie sich auf verschiedene Weise entfernt hatten.
Seinem bissig kommentierten Bilderbuch stellt Tucholsky die folgenden Worte Hölderlins aus „Hyperion“ (erschienen in zwei Bänden 1797/1799) vorweg:
„Es ist ein hartes Wort und dennoch sag ich’s, weil es Wahrheit ist: ich kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen – ist das nicht wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergoßne Lebensblut im Sande zerrinnt? […]“
War diese Zerrissenheit zu Hölderlins Zeiten noch in den kleinstaatlichen Realitäten des kurz vor dem Untergang stehenden Reiches begründet, so entzweite man sich zu Tucholskys Zeiten aufgrund ungleicher Ideologien. In den Geburtsstunden der Ismen zerwarf es die Menschen derart, daß der notwendige Dialog einer sich selbst nährenden Gewalt wich. Es verbarg sich Verbindendes hinter Trennendem – der Haß auf das Gegenüber kaschierte die Liebe zum eigenen Land. Um so mehr erfreut, daß Tucholskys Werk nach so viel unsanfter Schelte versöhnlich mit seinem Deutschland „ohne Fahne, ohne Leierkasten, ohne Sentimentalitäten und ohne gezücktes Schwert“ ausklingt:
„Nun haben wir auf vielen Seiten Nein gesagt, Nein aus Mitleid und Nein aus Liebe, Nein aus Haß und Nein aus Leidenschaft – und nun wollen wir auch einmal Ja sagen. Ja –: zu der Landschaft und zu dem Land Deutschland.
Dem Land, in dem wir geboren sind und dessen Sprache wir sprechen.
Der Staat schere sich fort, wenn wir unsere Heimat lieben. Warum grade sie – warum nicht eins von den andern Ländern –? Es gibt so schöne.
Ja, aber unser Herz spricht dort nicht. Und wenn es spricht, dann in einer andern Sprache – wir sagen ‘Sie’ zum Boden; wir bewundern ihn, wir schätzen ihn – aber es ist nicht das.
Es besteht kein Grund, vor jedem Fleck Deutschlands in die Knie zu sinken und zu lügen: wie schön! Aber es ist da etwas allen Gegenden Gemeinsames – und für jeden von uns ist es anders. Dem einen geht das Herz auf in den Bergen, wo Feld und Wiese in die kleinen Straßen sehen, am Rand der Gebirgsseen, wo es nach Wasser und Holz und Felsen riecht und wo man einsam sein kann; wenn da einer seine Heimat hat, dann hört er dort ihr Herz klopfen. Das ist in schlechten Büchern, in noch dümmeren Versen und in Filmen schon so verfälscht, daß man sich beinah schämt, zu sagen: man liebe seine Heimat. Wer aber weiß, was die Musik der Berge ist, wer die tönen hören kann, wer den Rhythmus einer Landschaft spürt … nein, wer gar nichts andres spürt, als daß er zu Hause ist; daß das da sein Land ist, sein Berg, sein See, auch wenn er nicht einen Fuß des Bodens besitzt … Es gibt ein Gefühl jenseits aller Politik, und aus diesem Gefühl heraus lieben wir dieses Land. Wir lieben es, weil die Luft so durch die Gassen fließt und nicht anders, der uns gewohnten Lichtwirkung wegen – aus tausend Gründen, die man nicht aufzählen kann, die uns nicht einmal bewußt sind und die doch tief im Blut sitzen.
Wir lieben es, trotz der schrecklichen Fehler in der verlogenen und anachronistischen Architektur, um die man einen weiten Bogen schlagen muß; wir versuchen, an solchen Monstrositäten vorbeizusehen; wir lieben das Land, obgleich in den Wäldern und auf den öffentlichen Plätzen manch Konditortortenbild eines Ferschten dräut – laß ihn dräuen, denken wir und wandern fort über die Wege der Heide, die schön ist, trotz alledem. […]
Und der Buchenwald; und das Moos, auf dem es sich weich geht, daß der Schritt nicht zu hören ist; und der kleine Weiher, mitten im Wald, auf dem die Mücken tanzen – man kann die Bäume anfassen, und wenn der Wind in ihnen saust, verstehen wir seine Sprache. Aus Scherz hat dieses Buch den Titel Deutschland, Deutschland über alles bekommen, jenen törichten Vers eines großmäuligen Gedichts. Nein, Deutschland steht nicht über allem und ist nicht über allem – niemals. Aber mit allen soll es sein, unser Land. Und hier stehe das Bekenntnis, in das dieses Buch münden soll:
Ja, wir lieben dieses Land.“
Tucholsky: Eine Treppe