(*Friedrich Schiller: Don Carlos)
Von rosé
Es gibt Tage, da fragt man sich ernsthaft, ob man zur falschen Zeit das falsche Buch zur Hand nahm – oder eben doch genau das richtige.
Gerade so geht es mir jetzt. Ich sitze im verschneiten Norwegen und lese Wolfgang Sofskys „Verteidigung des Privaten“. Es ist eines der Bücher meiner jährlichen, kostengünstigen Buchbestellung bei der Bundeszentrale für politische Bildung. Das Buch des Soziologen ist eine leidenschaftliche Verteidigung privater Freiheit inmitten unserer heutigen Überwachungsgesellschaft. Streitbar gewiß, mit arg spitzer Feder geschrieben, und beileibe stimme ich nicht mit allem überein – aber es soll ja auch eine „Streitschrift“ sein, wie der Untertitel verspricht.
Schon länger befasse ich mich nebenbei ein wenig mit dem Themenkreis „Überwachungsgesellschaft“. So war es vor einigen Jahren bereits Semesterthema in unserer Hamburger Gilde. Ging es zunächst bei digitalen Reisepässen, Antiterrorgesetzen und vor allem um staatliche Kontrolle, zeigte sich mehr und mehr, daß dies nur ein Teil innerhalb unserer Zivilgesellschaft ist: Firmen verkaufen ihre Kundendaten, Überwachungskameras prägen das Alltagsbild, „Namengoogeln“ ist zum allgemeinen Volkssport geworden: willkommen in der Überwachungsgesellschaft!
Damit einher geht die Forderung, zu allem wichtigen und unwichtigen Geschehen eine abrufbereite „Meinung“ zu haben, welche unsere Zivilgesellschaft dann billigst in „wahr oder falsch“ einzustufen gewillt ist. Beliebt sind derzeit besonders Abgrenzungserklärungen und Verpflichtungen zur demokratischen Grundordnung. Im jugendbewegten Bereich werden Bünde und Personen mittels vermeintlichen Ansteckungszaubers stigmatisiert und sollen aus dem „demokratischen“ Spektrum der Bünde ausgemerzt werden. Nur wer sich auf das ausführlichste distanziert und seine „innere Freiheit“ in Deckungsgleichheit mit der Meinung der vielen setzt, darf wieder dabeisein. Ganz im Gegensatz zu diesen Auffassungen schreibt Sofsky: „Privatheit gewährt jedem das Recht, in der Öffentlichkeit unerkannt zu bleiben und auf die Abgabe politischer Bekenntnisse zu verzichten. Privatheit bedeutet, dass jeder sein eigenes Wohl erstreben kann, und zwar auf die ihm eigene Weise. Privatheit, welche den Namen verdient, umfasst die Freiheit des Glaubens und der Gedanken, die Freiheit vor unerbetener Berührung und Belästigung, vor den Zwängen der Gemeinschaft, der Gesellschaft und des Staates.“ (Sofsky, 2007, S.29)
Besondere Stilblüten der Überwachungsgesellschaft offenbarten die deutschen Medien allerdings, als ich gerade das letzte Kapitel des Buches las: Gedankenfreiheit.
Was war geschehen? Der bündische Jugendbund Sturmvogel hatte wie viele jugendbewegte Bünde ein Winterlager durchgeführt. Da der Sturmvogel 1987 aus einerAbspaltung der 1994 verbotenen Wiking Jugend hervorgegangen war, gilt er manchen als mögliches Auffangbecken der HDJ. Da unser deutscher Rechtsstaat den Sturmvogel jedoch nicht als eine die freiheitlich-demokratische Grundordnung bedrohende Organisation ansieht und folglich der Staat diesen auch nicht beobachtet, griffen selbsternannte Ordnungshüter eigenmächtig zur Waffe, sprich: zur Kamera. So berichteten die Medien: „Erst nachdem die Antifa auf sein Grundstück gekommen sei und durch Fenster fotografiert habe, hätte er [der Vermieter] sich über den „Sturmvogel“ im Internet informiert.“
Die Antifa als Hüter der Demokratie? – “Linksextremisten verstehen sich nicht einfach als Gegenpol zu Rechtsextremisten. Mit dem Begriff ‘Antifaschismus’ verfolgen sie weitergehende Ziele. Im Zentrum Ihrer Ideologie steht die Bekämpfung des Staates und des Kapitalismus, in dem sie die eigentliche Ursache und Wurzel des Faschismus sehen.” [Seite 19 aus Andi 3, einzusehen im pdf-Format unter http://www.andi.nrw.de/andi3/Comic/andi3_comic.htm]
Ich sitze in Norwegen und lese ein Buch zur Verteidigung des Privaten. Die Beispiele, die Sofsky bringt, sind mitunter schon erstaunlich – die Realität ist leider erstaunlicher…! Den Pressemitteilungen zufolge griff nun der Staat selbst ein – schließlich mußte er nun ja überprüfen, ob die „Antifa“ nicht doch recht hatte: Die Privatheit wird gänzlich zerrissen, die Polizei untersucht, der Staat wird aktiv, die „Antifaschisten“ durchforsten zeitgleich ihre umfangreichen Archive. Fotos von Kindern werden verglichen, erfaßte Autokennzeichen überprüft und die Verwandten- und Bekanntenkreise der Sturmvögel seziert. Einerregionalen „Antifagruppe“ gelang es, Ihre Subjektivität über eine dpa-Pressemeldung zu verbreiten. Das Ergebnis der staatlichen Untersuchungen hingegen: alles in Ordnung, „keine Anhaltspunkte für Straftaten oder Kindeswohlgefährdung“- kein Grund zur Beunruhigung für unsere Demokratie. Dafür all die Privatheit getreten, Freiheit verhöhnt. Und das Ergebnis? Einige der Wächter des freideutsch-aufklärerischen Ethos diskutieren erneut über Ausgrenzung und Distanzierung. Angst wird geschürt; Angst, selbst durch „falsche“ Codes, mißverständliche Formen, „falsche“ Äußerungen ins Visier zu geraten. Verständliche Angst. Aber: Ist das nun Innere Freiheit 2.0?
Die Meißnerformel konsequent gedacht wird nicht jedermanns Sache sein. Wozu auch? Aber wer für die innere Freiheit eintritt, muß auch für die Freiheit des Suchenden, muß auch für die Freiheit des Irrenden eintreten.
“Jahrhunderte dumpfen Irrglaubens und geistiger Tyrannei hinderten Generationen von Menschen am selbstständigen Gebrauch der Vernunft. Denkverbote und modisches Geschwätz lullen auch heute noch viele Zeitgenossen in wohlige Torheit ein. Weil Menschen für Irrtümer ebenso empfänglich sind wie für Wahrheiten, bedürfen sie der Gedankenfreiheit. Denn nur der Widerspruch kann sie vor Leichtgläubigkeit und geistiger Trägheit bewahren.” (Sofsky, 2007, S.138)